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Sieht nur für Kenner wie Traubenmaterial aus, das einmal guten Wein geben kann: die Früchte, aus denen der Amarone gemacht wird.

Foto: Michael Schinharl / the food passionates / Corbis

Bis an die Decke stapeln sich Kisten auf Kisten, ein Stapel reiht sich an den anderen. Das Sonnenlicht fällt durch große Öffnungen in der Wand auf die kleinen Kisten, in denen verschrumpelte, tiefblaue Trauben liegen. Der Luftstrom, der durch die Halle streicht, ist auch für Besucher wahrnehmbar, der Geruch erinnert an Feigen, Kletzen und Rosinen.

Das hier praktizierte Verfahren wird Appassimento genannt: Bevor die Trauben vergären, werden sie in luftigen Lagerhallen namens "fruttai" in flachen Kisten getrocknet. Wie bei Rosinen verflüchtigt sich ein Teil des Wassers, alle andere Geschmacksstoffe werden konzentriert. Danach erst wird gepresst, vergoren und gereift - im Falle von Amarone mindestens zwei Jahre, meist jedoch vier, fünf oder noch länger.

Amarone ist eine Cuvée aus den lokalen Sorten Corvina, Corvinone und Rondinella, dazu kommen manchmal weitere Regionalisten wie Molinara, Dindarella oder Oseleta. Jede für sich ist mehr oder weniger spannend, zusammen agieren sie wie ein perfekt eingespieltes Fußballteam.

Legenden

Ausschlaggebend für die Qualität ist nicht die Dauer des Appassimento (100 Tage, meist länger), sondern wie sorgfältig die Trauben ausgewählt wurden und wie gut ein Winzer die Trocknungsumstände - Luftzirkulation im Lager, Herbstwitterung - im Griff hat. Nur gesunde und unbeschädigte Trauben überstehen die lange Lagerzeit, sie müssen aufgelegt werden, sonst verschimmeln sie, anstatt zu trocknen. Das Risiko dieses Prozesses wird von manchen Produzenten durch Vortrocknen mit warmer Luft minimiert, was das Gesetz für das eigentliche Appassimento nicht erlaubt. Kritiker dieser Vorgehensweise beklagen, dass dadurch auch wichtige Geschmacksnoten verloren gehen.

Wein aus getrockneten Trauben gibt es in der Gegend seit dem vierten Jahrhundert vor Christus, wie ein Briefdokument belegt, vermutlich, weil Trocknen eine Form von Haltbarmachen war. Amarone ist allerdings ein Jüngling, der erst nach dem Zweiten Weltkrieg kommerzialisiert wurde. Um seine Entstehung ranken sich Legenden von verlorenen Recioto-Fässern - einem Süßwein der Gegend -, die mit durchgegorenem Inhalt wiedergefunden wurden. Wahrscheinlicher ist, dass dieses Durchgären immer wieder passierte, trockene Weine damals aber schwer verkäuflich waren und daher "en famille" getrunken wurden. Der Publikumsgeschmack änderte sich in den 1960ern, Amarone bekam seine Chance und wurde 1968 zum DOC-Wein, 2010 zum DOCG-Wein erhoben.

Mode und Holzkisten

Auch bei Amarone finden sich alle Moden der Weinwelt: Die ursprünglichen Regale aus Schilf und Holzbrettern wurden durch Holzkisten ersetzt, die leichter handzuhaben sind. Heute findet man auch häufig Plastikboxen, was traditionsbewusste Winzer ablehnen, da Holz und Hefen zusammenspielen. Große Holzfässer waren bereits früher Tradition und verdrängen heute wieder die in den 1990-ern massiv eingesetzten 225-Liter-Barriques, die einen ohnehin kraftstrotzenden Wein noch mehr aufblähten. Auch biologischer Landbau und Versuche in Richtung Natural Wines werden von manchen Winzern betrieben. Jahrgänge oder Lagen spielen kleinere Rollen, da die Qualität vor allem durch die Prozedur der Herstellung bestimmt wird. Das Reifepotenzial von Amarone ist enorm, die Preise (ab etwa 20 Euro aufwärts) sind stolz und werden mit Aufwand und Verfügbarkeit argumentiert. Doch sämtlichen Moden zum Trotz ist bei Amarone Handarbeit immer noch Pflicht und nicht einmal ein Mittelmaß an Qualität möglich, sofern nicht penibel selektioniert wird. Und dann schmeckt er hinreißend.

Nichts für Vorurteilsbeladene

Am Gaumen gibt er sich verführerisch süß und würzig und ist doch gleichzeitig ein trocken durchgegorener Wein. Üppige, frische Frucht wird durch einen herben Ton gekontert, eine Geschmacksnote, die bereits in seinem Namen mitschwingt: "amaro" - auf Italienisch "bitter, herb". Amarone zeigt vor allem, welch herrliche Facetten Süße haben kann: Ausgereifte dunkle Beeren sind anders süß als reife Zwetschken oder Kirschen. Die Süße bei Powidl hat Würze, wuchtige Honigsüße wieder pflanzliche Töne. Nicht zu vergessen die Süße von Gewürzen wie Zimt oder Nelken.

Amarone ist nichts für Vorurteilsbeladene, die bei höheren Alkoholwerten Herzflattern bekommen oder mit Tannin nur eine Duftwolke von frisch gehobeltem Holz verbinden. Alkoholgradationen ab 14 Volumenprozent sind normal und in den besten Exemplaren in ein prächtiges Umfeld eingebettet. Guter Amarone ist der flüssige Beleg dafür, dass Süße nicht nur plump und pickig ist und dass sich Kraft und Eleganz nicht ausschließen müssen. (Luzia Schrampf, Rondo, DER STANDARD, 13.3.2015)