Seit einem Monat wohnen Muhammad – der nicht erkannt werden will – und die Studentinnen Eva und Lisa zusammen. Die Wohngemeinschaft hat sich über eine neue Plattform gefunden.

Foto: Andy Urban

Wien – Ein Bett, ein Schrank und ein Schreibtisch stehen in Muhammads* Zimmer. Auf dem Nachttisch: ein Hello-Kitty-Wecker. Muhammad gehört hier kaum etwas – alles Überbleibsel vom Vormieter, auch die Urlaubsfotos. Trotzdem fühlt er sich "angekommen".

Vor vier Jahren ist Muhammad aus Pakistan geflohen. Danach musste er ständig umziehen: von Traiskirchen nach Tirol, dann wieder Traiskirchen und nun Wien. Dazwischen: Aufenthalte in Paris und Kopenhagen.

"Als ich zum ersten Mal die Wohnung betrat, wusste ich, dass ich hier leben möchte", sagt Muhammad. Das liegt auch an seinen Mitbewohnerinnen: Lisa Linkeseder studiert Komparatistik und Kunstgeschichte an der Uni Wien, Eva Linkeseder Soziale Arbeit an der Fachhochschule Salzburg. Die beiden sind Cousinen.

Seit einem Monat teilen sie sich eine Altbauwohnung im achten Bezirk. Die hohen Altbauräume sind gespickt mit bunten Möbeln, das meiste secondhand. An den Wänden: tibetische Gebetsfahnen, alte Straßenschilder von Wien und Ausstellungsplakate.

WG-Leben auf Deutsch und Englisch

Das gemeinsame WG-Leben spielt sich abwechselnd in Evas und Lisas Zimmer ab: "Wir haben einen Tisch, der wandert", sagt Eva. Wenn Zeit ist, kochen und essen sie zusammen. Für heute Abend hat Muhammad einen Ciabatta-Teig vorbereitet.

"Wir waren gespannt, schließlich wussten wir nicht, ob wir uns überhaupt in einer Sprache verständigen können", sagt die Studentin. Sie haben zu einer gefunden: Eine Mischung aus Englisch und Deutsch – Muhammad macht gerade seinen dritten Deutschkurs. Überhaupt sei die Sprache nicht so wichtig: "Wir haben denselben Schmäh", sagt Eva.

Zusammengefunden hat die WG über "Flüchtlinge willkommen". Die Plattform wurde nach deutschem Vorbild im Jänner dieses Jahres als Non-Profit-Organisation gegründet. Sie vermittelt Flüchtlingen leerstehende Zimmer in Wohngemeinschaften. "Wir wollen den Kontakt mit der Gesellschaft herstellen und somit die Flüchtlinge besser integrieren", sagt der Politikwissenschaftsstudent David Zistl, der das Projekt mitbegründet hat.

Kein WG-Casting

Die Anmeldung läuft übers Internet: Die Zimmersuchenden und -bietenden können sich per Fragebogen registrieren. Zistl und seine Kollegen stellen dann – nach Alter und Interessen – passende Kombinationen zusammen. "Wir wollen nicht zehn Leute zu einem Casting schicken", sagt Zistl.

So lief es auch bei Muhammad ab. Gemeinsam mit einem österreichischen Freund, der ihm von "Flüchtlinge willkommen" erzählt hatte, besuchte er Lisa und Eva, die "im Radio von dem Projekt gehört" hatten. Sie waren auf der Suche nach einem Zwischenmieter und wollten "sowieso jemanden von woanders" aufnehmen. Da kam das Projekt gelegen. Die einzige Priorität, die die Cousinen bei der Mitbewohnersuche angaben: "Uns ist Gemeinschaft wichtig, wir wollen nicht nebeneinander herleben."

Das hat Muhammad gefallen. Nun sind sie die erste WG in Österreich, die über die Plattform entstanden ist.

120 Euro Mietzuschuss

Derzeit leben laut Innenministerium 7400 Flüchtlinge in Wien, rund drei Viertel davon in privaten Unterkünften. Flüchtlinge, die privat wohnen, erhalten im Rahmen der Grundversorgung 320 Euro pro Monat: 200 Euro für die Verpflegung, 120 Euro Mietzuschuss.

Laut Rechnungshofbericht über die Flüchtlingsbetreuung sei die individuelle Unterbringung deutlich kostengünstiger als die organisierte Unterbringung von Asylwerbern. Daher "sollte diesen das Wohnen in individuellen Unterkünften vermehrt ermöglicht werden" und "die bereits beschlossene Erhöhung der Kostensätze für die individuelle Unterbringung umgesetzt werden".

Per Crowdfunding zur Monatsmiete

Mit 120 Euro ist es schwer, in Wien eine Wohnung zu finden. Genau dabei will "Flüchtlinge willkommen" ansetzen: Die Plattform unterstützt die WGs beim Crowdfunding für die Miete. Auf Facebook baten Lisa und Eva um Unterstützung: "Binnen 24 Stunden hatten wir das Geld für acht Monatsmieten sicher", sagt Eva. Ehemalige Lehrer, Freunde und Studienkollegen überweisen monatlich einen Fixbetrag auf das WG-Konto.

Seine Lebensmittel zahlt Muhammad aber selbst. Dafür arbeitet er in einer Pizzeria – täglich. Die Schicht beginnt um fünf Uhr morgens, einen fixen Stundenlohn bekommt der 38-Jährige nicht: "Ich werde nach Ermessen bezahlt." Meistens sind es zwischen zehn und 15 Euro pro Tag. "Ich würde auch gratis arbeiten, damit ich nicht so viel nachdenken muss", sagt Muhammad. Der Grund: Er hat Depressionen.

Depressionen durch Flucht

Seit über drei Jahren leidet Muhammad an psychischen Problemen: "Das kam mit der Flucht." Mittlerweile hat er aber Hilfe gefunden: Beim Verein Hemayat besucht er Therapiestunden. Dieser betreut mit Unterstützung von Dolmetschern Folter- und Kriegsüberlebende.

"Man kann davon ausgehen, dass alle Flüchtlinge traumatisiert sind", sagt Barbara Preitler, Psychotherapeutin bei Hemayat. So ein Trauma könne zu Depressionen oder Posttraumatischen Belastungsstörungen führen und durch das lange Warten auf den Asylbescheid verstärkt werden.

Die Flüchtlinge, die am häufigsten Therapieangebote annehmen, kommen aus Tschetschenien, Afghanistan und Pakistan. Es sei wichtig, dass Traumatisierte möglichst bald wieder gute Erfahrungen mit Menschen machen, sagt Preitler. Genau das könne auch das "Wohnprojekt Flüchtlinge willkommen" leisten. Denn: "Durch solche Beziehungen kommen Flüchtlinge wieder zur nötigen Sicherheit und lernen, wie man sich als junger Mensch in Österreich verhält", sagt Preitler.

Nächste Woche lädt die WG ihre Spender zum Essen ein. Muhammad will kochen. (Lisa Breit, Selina Thaler, 5.3.2015)

* Der Name wurde auf Wunsch von der Redaktion geändert.