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Lithium kommt in unterschiedlichen Mengen im Erdreich und im Gestein vor, ist aber auch in einigen Medikamenten enthalten.

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Wien - Man spricht nur ungern darüber. Suizid ist weltweit eine der zehn häufigsten Todesursachen - ein gewaltiges Problem, welches auch hierzulande zahlreiche Opfer fordert. In Österreich nehmen sich jedes Jahr rund 15 von 100.000 Personen das Leben, erklärt der Psychiater Nestor Kapusta von der Medizinischen Universität Wien. Allerdings sind nicht alle Menschen gleich gefährdet. "Die Suizidrate ist bei Frauen generell geringer", sagt Kapusta.

Selbstmord kann vielerlei Hintergründe haben. Oft sind psychische Störungen wie Depressionen oder Schizophrenie die Wurzel des Übels. Interessanterweise jedoch gibt es auch große regionale Unterschiede. Im burgenländischen Bezirk Neusiedl oder in Osttirol zum Beispiel beträgt die Suizidrate weniger als 40 Prozent des gesamtösterreichischen Durchschnitts. In weiten Teilen der Steiermark dagegen liegt sie deutlich über dem Mittelwert. Ein bemerkenswertes Gefälle.

Nestor Kapusta und sein Team gehen dem seltsamen Phänomen bereits seit mehreren Jahren nach und nehmen mögliche Ursachen für die Ungleichverteilung unter die Lupe. Einer der Kandidaten ist ein eher wenig beachtetes Element namens Lithium. Das Alkalimetall kommt natürlicherweise im Erdreich und in Gestein vor, in unterschiedlichen Mengen. Lithiumverbindungen sind meist leicht löslich, wodurch das Element oft in Form positiv geladener Ionen auftritt.

Alter Bekannter

In der Forschung ist Lithium ein alter Bekannter. Der Stoff wird schon seit über 60 Jahren in Medikamenten zur Behandlung diverser psychischer Störungen eingesetzt. Mit beachtlichem Erfolg. Die Präparate wirken vor allem stimmungsaufhellend und aggressionshemmend. Und sie verringern das Selbstmordrisiko - weit effektiver als viele andere Psychopharmaka. Abgesehen davon lösen Lithiumsalze nur wenige Nebenwirkungen aus, berichtet Nestor Kapusta. Nur bei manchen Patienten kommt es nach langjähriger Einnahme zu Nierenstörungen oder einer Schilddrüsen-Unterfunktion. In einigen Fällen kann auch kurz nach Beginn der Behandlung Tremor einsetzen. Wie Lithium das Gehirn biochemisch beeinflusst, konnte noch nicht ausreichend geklärt werden. Bisherigen Erkenntnissen zufolge greifen die Ionen in die von Serotonin gesteuerten Signalketten ein, und verstärken indirekt die Wirkung dieses Botenstoffs.

Gleichzeitig jedoch wird auch das Enzym GSK-3 direkt durch Lithium inaktiviert. Ersteres spielt eine zentrale Rolle in der Regulierung von Zellteilungs- und Zellalterungsprozessen, wie Nestor Kapusta erklärt. Die Hemmung von GSK-3 führe zu einer Steigerung der Neuroplastizität. Auch die Neubildung von Zellen wird gefördert, und das hat offensichtlich Folgen. "Bereits niedrige Dosen von Lithium scheinen schützend gegen Alzheimer zu wirken", sagt Kapusta. Das Metall verleiht dem Hirn womöglich eine erhöhte Regenerationsfähigkeit.

Therapeutisch wird Lithium in Dosen von bis zu mehreren hundert Milligramm verabreicht. In der Umwelt dagegen betragen die Konzentrationen nur selten über 0,1 Milligramm pro Liter Wasser. Dennoch gibt es Hinweise darauf, dass auch eine ständige Aufnahme von geringen Lithiummengen durchaus Auswirkungen auf die Psyche haben könnte. Im Rahmen einer umfassenden Datenanalyse konnte die Arbeitsgruppe für Österreich eine Korrelation zwischen dem Lithiumgehalt im Trinkwasser eines Bezirks und der dort vorherrschenden Suizidrate aufzeigen. In Gegenden mit relativ hohen Konzentrationen liegt die Selbstmordhäufigkeit oft unter Landesdurchschnitt. Auch unter Berücksichtigung anderer, für die psychische Gesundheit wichtiger Faktoren blieb der Zusammenhang statistisch relevant (vgl.: "British Journal of Psychiatry", Bd. 198, S. 346). Ein ähnlicher Effekt wurde kürzlich auch im US-Bundesstaat Texas, in Japan und in Griechenland beobachtet.

Quellen nicht eindeutig

Manchmal sind die Quellen des Lithiums nicht eindeutig identifizierbar, die Konzentrationen zeigen riesige Unterschiede. Hierzulande beträgt der höchste gemessene Wert 1,3 Milligramm pro Liter Trinkwasser. Er wurde in der Nähe von Graz gemessen. Im Schnitt lassen sich in Österreich nur 0,0113 Milligramm/Liter nachweisen.

Beim Betrachten solcher Zahlen hatten die Forscher einen Verdacht. Was wäre, wenn der Zusammenhang zwischen Suizidhäufigkeit und Lithium in der Trinkwasserversorgung ganz anderer Natur sei? Könnte das Metall zumindest zum Teil nichtnatürlicher Herkunft sein? Kein abwegiger Gedanke. In Nordamerika wurden schließlich schon mehrfach allerlei Mittel wie Ibuprofen, Koffein, Codein und das Antidepressivum Fluoxetin im Trink- oder im Grundwasser nachgewiesen. Vermutlich stammen die Stoffe aus Abwässern. Das könnte theoretisch auch auf Lithium zutreffen, meint Nestor Kapusta. "Medikamente werden in Kläranlagen meist nicht entfernt."

Der konkrete Verdacht der Wissenschafter lautete: Die Lithium-Konzentrationen könnten eventuell die regionale Verschreibungspraxis für lithiumhaltige Medikamente widerspiegeln. Die mancherorts ungewöhnlich hohen Lithiumwerte im Trinkwasser wären in dem Fall das Resultat häufiger Behandlungen und nicht eine Folge natürlichen Vorkommens. Man ging der Sache mittels einer weiteren Studie, finanziert vom österreichischen Wissenschaftsfonds FWF, auf den Grund. Die Untersuchungen wurden vor wenigen Wochen abgeschlossen.

Die Hypothese, berichtet Kapusta, wurde widerlegt. "Die Korrelation ist sehr schwach. Das reicht nicht als Nachweis, dass Lithium im Trinkwasser von Medikamentenrückständen stammen könnte." Selbst wenn natürlicher Lithiumreichtum die Zahl der Suizide vielleicht verringert - andere Faktoren spielen eine größere Rolle, wie Nestor Kapusta erläutert. Die sozioökonomischen Umstände sind wohl die wichtigsten.

Antidepressiva können akut gefährdete Patienten schützen. Aber das reicht oft nicht. Kapusta. "Man sollte immer auch mit einem professionellen Helfer Gespräche führen." (Kurt de Swaaf, DER STANDARD, 4.3.2015)