Wien - Der trefflichste Kommentar zum Einakter Flucht der israelischen Autorin Sara von Schwarze stammt aus der Feder Ödön von Horváths. Er ist in dem Stück Zur schönen Aussicht enthalten. Darin sagt die Figur Ada, eine recht verkommene Dame: "Ich bin nämlich eigentlich ganz anders, aber ich komme nur so selten dazu."

Eigentlich ganz anders ist auch der Jude Abraham, der Held in Flucht. Er wanderte einst von Deutschland nach Israel aus und kehrte später, der Liebe wegen, nach München zurück. Im Theater Nestroyhof sehen wir einen reifen Herrn (Peter Cieslinski) im Anzug, der sichtlich aufgeräumter Dinge ist. In seiner geschmackvollen Wohnung stehen halbvolle Weinflaschen herum (nur edelste Tropfen). Vor allem aber liegt auf seiner Ledercouch zu vorgerückter Stunde ein ungebetener Gast.

Ruth (Ingrid Lang), die israelische Tochter, ist über den Balkon in Abrahams Wohnung eingestiegen. Die junge Frau hält beim Schlummern die Augen offen. Papa fällt aus allen Wolken. Seine mondäne Gefährtin Sabine (Barbara Gassner) wittert mit sicherem Gespür den Störenfried.

Die Wohnzimmerschlacht ist eröffnet. Siehe da: Abraham ist eigentlich ganz anders. Er heißt in Wahrheit Ernst. Sein Judentum ist ein erborgtes oder erworbenes. Seine Freundin, deretwegen er einst die Familie sitzen gelassen hat, ist eine Lesbe. Und Ruth, die Tochter? Ist gleich ganz, ganz anders. Schwanger, von Selbstzweifeln zerfressen, aus Abscheu vor Israels Sicherheitspolitik womöglich zur Täterin geworden.

Man weiß nichts Bestimmtes im Hamakom Theater. Man bringt nichts Genaues in Erfahrung. Michael Gruner, der große, meist zum Grübeln aufgelegte Regisseur, traut dem Stück Flucht ohnehin nicht über den Weg: Zu verschwätzt ist das Ganze, zu erwartbar im Auslegen immer neuer Identitätsschlingen.

Gruner ist auf eine famose Idee gekommen. Er hat sie beim großen Bertolt Brecht bezogen, im Laden für epische Gebrauchsartikel. Weil jede der drei Figuren in ihrem eigenen, blickdichten Lügenhaus wohnt, nötigt er die Schauspieler zum Ausprobieren. Jede Szene erfordert eine Haltungsänderung. Eben noch haben die beiden Frauen einander wie Raubtiere umschlichen. Schon raspeln sie Süßholz, oder sie gehen gegenüber dem Alten ein Zweckbündnis ein.

Klingelzeichen

Im Gefolge der künstlichen Spielanordnung gelingen den Schauspielern außerordentlich starke Momente. Klingelzeichen unterbrechen die Szenen, manchmal wird das Treiben auch nur schockgefroren. Dann halten sich die Mitglieder dieser offenen Familie Papiermasken vor das Gesicht. "Substanz, an sich, ich ..." heißen die Reizworte, die ihre Herkunft dem deutschen Idealismus verdanken. Gruner hat hoch gepokert und fast alles gewonnen: Aus Papier schöpft er lebendiges Theater. Drei wunderbare Darsteller bringt er zum Erblühen. Die anwesende Autorin hat aus Anlass der Premiere Tränen gelacht. Und jetzt sollte Gruner halt auch wieder ein erstklassiges Stück inszenieren. (Ronald Pohl, DER STANDARD, 3.3.2015)