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Josef Blatter hat selbst angeblich nicht für Katar gestimmt, aber er prägte das System, das die umstrittene WM-Vergabe hervorbrachte.

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2022 wird wohl politisch kein stolzes Jahr für die Welt des Sports. Damit die FIFA-WM im politisch problematischen Katar weder mit unerträglicher Sommerhitze noch mit den Olympischen Winterspielen in den politisch nicht weniger problematischen Ländern Kasachstan oder China kollidiert, wird sie auf November/Dezember verlegt und verkürzt.

Der Weltverband für Fußball quetscht sein größtes Turnier also irgendwo dazwischen - mitten in den europäischen Wintersport, die Saisonen der nordamerikanischen Platzhirsch-Sportarten (NHL, NBA, NFL), gegen den Rhythmus der meisten weltweit bedeutenden Fußball-Ligen und unter völliger Missachtung unseres mit Weihnachtsfeiern und Punschstand-Besuchen vollgestopften Dezembers.

Ungeachtet der Termin-Probleme (die man schon irgendwie in den Griff bekommen wird) sowie angeblich drohenden finanziellen Einbußen für Ligen und Vereine (welche die FIFA nicht kompensieren will): Ein komprimiertes Turnier mit weniger Ruhephasen und Vorbereitungszeit würde den sportlichen Wert der "Wüsten-WM" nicht gerade steigern. Und dann ist die Terminisierung auch noch nur wenige Wochen vor jenem Fenster, in dem Afrika-Cup und Asien-Cup 2023 logischerweise stattfinden müssten.

Die FIFA hat ihre Verdienste

Unersichtlich ist, was davon den Interessen des Sports oder seiner propagierten Werte dient. Natürlich: Die FIFA hat unumstritten ihre Verdienste und sogar der mittlerweile fast 79-jährige Sepp Blatter selbst (der die Vergabe an Katar längst als Fehler bezeichnet hat und Gerüchten zufolge selbst für die USA abgestimmt hat) tat dem Fußball in seinen über drei Jahrzehnten beim Verband bei weitem nicht nur Schlechtes. Sie haben den Fußball in den letzten Jahrzehnten global attraktiviert und professionalisiert. Man sieht es am Hauptsitz in Zürch, an dem mittlerweile über 300 Menschen arbeiten. Bei Blatters ersten Schritten im Verband 1975 soll es nur ein knappes Dutzend gewesen sein.

Davon haben FIFA und Blatter natürlich profitiert: Die FIFA hat sich mittlerweile immerhin zu Finanzrücklagen von deutlich mehr als einer Milliarde Euro verholfen (Bilanzbericht 2013: 1,432 Milliarden US-Dollar). Die hohen Funktionäre verdienen längst marktübliche Top-Manager-Gagen, Blatters Grundgehalt wird mit über einer Million Dollar kolportiert.

Aber braucht man für all diese Fortschritte wirklich eine FIFA, die Turniere an politische Problemländer vergibt, das eigene Vorzeigeturnier mit Terminkuriositäten torpediert, dabei auch Kontinentalbewerbe opfert, Profiligen malträtiert, Korruptionsberichte unter Verschluss hält und abgesehen von beachtlichen Glücksfällen für so manchen Funktionär auch sich selbst als Verband immerzu bereichert? Idealtypisch ist das jedenfalls nicht.

Die FIFA müsste nicht so sein

Eine anti-kommerzielle, supersaubere Wunderorganisation als Alternative wagt man zwar nicht einmal mehr zu erhoffen, aber es könnte auch aus der Logik des oft geschassten und doch ziemlich erfolgreichen, "modernen Fußballs" heraus bessere Strukturen geben. Nämlich solche, die für den Fußball nachhaltiger funktionieren, ihn auch als moralische Instanz nicht gänzlich diskreditieren, wie es politisch zweifelhafte Veranstaltungsländer und mittlerweile manifestierter Korruptionsverdacht tun.

Natürlich sind problematische Veranstalter kein neues Phänomen. Man denke nur an die WM 1978 unter der Militärdiktatur Argentiniens (das bei der Vergabe noch keine war), oder umgekehrt daran, dass Spanien den Zuschlag für die WM 1982 noch unter Diktator Francisco Franco erhielt. Dass aber politischer und/oder ökonomischer Protest gegen und in Austragungsländern wie zuletzt in Südafrika und Brasilien und bald bei Russland und Katar praktisch zur Bürger-Pflicht wird, könnte auch anders sein. Was gegen die Strukturen getan werden kann, die solche Zustände verantworten, ist also eine oft auf die ein oder andere Weise gestellte Frage.

Kann eine Bewegung, die von außerhalb kommt, die Lösung für diese Probleme sein? Ein neuer Weltverband der Tabula Rasa macht? Eher nicht. Einerseits hat die FIFA den Einfluss und das Geld, um eine solche Attacke enorm zu erschweren. Und sie wird sich kaum selbst abschaffen. Dieser Versuch würde in eine Konkurrenz mehrer Verbände münden. Andererseits: Sieht man sich die Erfahrungen anderer Sportarten mit solchen Verbandsstreitigkeiten an, ist er auch nicht besonders wünschenswert.

Kein Heilsbringer in Sicht

Eine echte Veränderung der FIFA aus ihrer aktuellen Beschaffenheit heraus steht ebenfalls nicht bevor. Der aktuell prominenteste Herausforderer von Blatter für das Präsidentenamt ist aufgrund seines Namens Luis Figo. Er hat aber wohl keine echte Chance, Blatter abzulösen.

Und selbst wenn doch: Sein Vorschlag, einen Großteil der Finanzreserve in Jugendprojekte rund um die Welt zu investieren, ist wichtig. Aber er müsste diese Reformen erst einmal durch Blatters seit Jahrzehnten aufgebaute, und auf struktureller wie informeller Macht beruhende Maschinerie bringen. Dazu reichen einzelne Ideen nicht. Das bedarf einer grundlegenden Veränderung, einer politisch geschickt eingefädelten Revolution.

Ob Figo dazu über genug ideologische Standfestigkeit und politisches und strategisches Geschick verfügt, muss man anzweifeln. Dazu reicht schon ein Blick auf andere seiner Wahlversprechen. Den unwahrscheinlichen Wahlerfolg und die Unterstützung außerhalb Europas will Figo ziemlich ungeschminkt erkaufen, indem er verspricht, die WM auf 40 oder 48 Nationen (mit zwei 20/24er-Vorturnieren auf zwei Kontinenten, ehe es zur K.-o.-Phase dann in ein einzelnes Land geht) auszuweiten.

Mehr Startplätze für andere Kontinente: Das ist zwar eine verständliche Wahlkampfstrategie. (Auch UEFA-Boss Michel Platini erwog sie, bevor er sich doch gegen eine Kandidatur entschied.) Aber der Vorschlag ist eben auch nur Ausdruck eines altbekannten Klientelismus: gewählt zu werden, weil man Vorteile verspricht, nicht, weil man das bessere Konzept für den Weltfußball hat. Das ist keine Revolution.

Eine größere WM wäre eine schlechtere WM

Die Idee wäre für die WM und damit vielleicht auch für den Fußball in mehrerlei Hinsicht ein Risiko. Das Turnier würde seinen Status als relativ kompakter, alle Aufmerksamkeit auf sich ziehender Superevent verlieren. Nicht einmal die eingefleischtesten Fans könnten oder wollten da noch dem kompletten Geschehen folgen. Ein Bedeutungsverlust könnte daraus entstehen.

Auch sportlich würde die WM damit weiter entwertet. Niemand weiß, woher acht oder gar 16 zusätzliche konkurrenzfähige Nationen herkommen könnten. Schon die aktuellen 32 Teilnehmer sind zu viel. Zu viel um annähernd jedem Teilnehmer eine echte Titelchance bescheinigen zu können. Das ist für manche Kritiker auch ein Grund, warum die WM anfällig für Spielmanipulationen ist. Und jedenfalls sind auch 32 Starter schon zu viel, um die WM noch guten Gewissens an kleinere oder ärmere Länder vergeben zu können.

Die UEFA könnte Blatters System stürzen

Wenn die Genesung des Weltfußballs kaum aus dem unmittelbaren System heraus oder von außen kommen kann, woher dann? Unfreiwillig hat Blatter möglicherweise bereits einen Grundstein dafür gelegt, indem er die Fußball-Supermacht Europa gegen sich aufbrachte (selbst wenn diese möglicherweise aus Opportunismus am Ende für ihn stimmt).

Es könnte zu einer Emanzipation von Teilverbänden kommen. Daran bastelt die UEFA unter dem Blatter-Apostaten Michel Platini bereits mehr oder weniger offen. Das Instrument würde von vielen Fans möglicherweise gehasst, aber die UEFA hätte es in der Hand und kennt es wohl auch: Es ist die bereits andiskutierte Ausweitung der Europameisterschaften oder Nations League auf nicht-europäische Teilnehmer.

Südamerika (CONMEBOL) und Nordamerika (CONCACAF) praktizieren derlei Einladungen zwar schon länger, aber vorsichtig und ohne ganz große Ambitionen. In Europa hätte dieser Schritt besonderes Gewicht und mehr Potential. Hier gibt es bereits das beste Gesamtpaket: Das Geld, die Tradition, die sportliche Konkurrenz. 15 der 20 erfolgreichsten WM-Teilnehmernationen sind ohnehin UEFA-Mitglieder. Eine EM mit "Gast"-Nationen wie Brasilien, Argentinien, Uruguay, Australien, Elfenbeinküste, Ghana oder Südkorea wäre nicht weniger als der Beginn einer alternativen WM.

Und da alle FIFA-Macht von der WM ausgeht - der größten nichtolympischen Sportveranstaltung der Welt und ihres im Mittelpunkt des FIFA-Budgets stehenden Geldsegens - wäre das gleichzeitig der Anfang vom Ende der FIFA, wie Blatter sie geformt hat. Dass die Nachfolger es besser machen, wäre damit freilich noch nicht garantiert. (Tom Schaffer, derStandard.at, 25.2.2015)