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Gedenken an die "himmlischen hundert": Eine Ukrainerin trauert um die Menschen, die bei den Maidan-Protesten vor einem Jahr starben.

Foto: EPA/SERGEY DOLZHENKO

Mit zitternden Händen zündet Ludmilla das Grablicht an. Sie ist aufgewühlt. Vor ihren Füßen liegen rote, weiße, gelbe Blumen; dahinter stehen die Porträtbilder der Toten des Maidan. Genau vor einem Jahr, um diese Zeit, am Vormittag, wurden sie erschossen. "Nein, mein Sohn ist hier nicht gestorben, aber ich fühle den Schmerz der Familien, die ihre Lieben verloren haben." Über Politik will sie nicht sprechen, obwohl die Gedenkfeiern zum Jahrestag der Schüsse auf dem Hauptplatz ein Politikum sind.

Während am Vormittag die Proben für Mozarts Requiem liefen, gingen im Osten des Landes die Kämpfe weiter. Nach Angaben des ukrainischen Militärs überquerten sogar mehr als 20 russische Panzer die Grenze zur Ukraine. Als Höhepunkt des Programms in Kiew wurde für jedes Opfer exakt an der Stelle des Todes ein Scheinwerfer aufgestellt - um "die himmlischen hundert, die unser Land, unsere Ehre und unsere Freiheit mit ihrem Leben verteidigt haben, zu ehren", wie es aus dem Präsidentenamt heißt. Petro Poroschenko gab noch vor der Trauerfeier Russland die Schuld an dem Blutbad vor einem Jahr. Der Geheimdienst verfüge über Aufzeichnungen von Telefonaten von Expräsident Wiktor Janukowitsch mit russischen Vertretern. Diese hätten die Gewalt gegen die Demonstranten lange vorbereitet, ließ Poroschenko verlauten.

Janukowitsch solle "für immer in der Hölle schmoren, für das, was er dem ukrainischen Volk und der Ukraine angetan hat", donnerte Poroschenko bei den Gedenkfeierlichkeiten und bezeichnete seinen Vorvorgänger als "grausame Marionette Moskaus". Russland kam auch unter verbalen Beschuss aus Brüssel: EU-Ratspräsident Donald Tusk sprach sich für neue Sanktionen gegen den Kreml aus.

Bereits den ganzen Freitag über legten Menschen bei den Porträts der Toten Blumen nieder. Auch die Pensionisten Wiktor und Helena. Vor jedem Porträt bleibt Helena stehen und bekreuzigt sich. Wiktor steht neben ihr und weint. "Unser Enkel ist hier gestorben", sagt er leise. Sie hoffen, dass die Schüsse aufgeklärt werden. "Aber das wird wohl noch eine Zeit dauern", schätzt Wiktor.

Führung gerät unter Druck

Bereits drei Generalstaatsanwälte haben versprochen, die Hintergründe lückenlos aufzuklären, doch darauf warten nicht nur die Angehörigen bis heute. Die ukrainische Führung gerät deshalb immer stärker unter Druck.

Fast alle Anführer, die damals die Maidan-Proteste aktiv vorantrieben, sind heute in Regierungsverantwortung: Der Chef der Maidan-Selbstverteidigung "Samooborona", Andrej Parybiy, ist Vize-Parlamentssprecher. Die damaligen Oppositionsführer Arsenij Jazenjuk und Witali Klitschko sind Regierungschef bzw. Bürgermeister von Kiew. Und Poroschenko, ein Hauptsponsor der Proteste und Oligarch, ist heute Präsident.

Nun werden immer mehr Augenzeugenberichte öffentlich. Sie lassen vermuten, dass manche Protestorganisatoren zumindest wussten, dass geschossen werden sollte. Bewiesen ist allerdings nichts. Bisher hatte die Regierung erklärt, der Schussbefehl sei von der damaligen Staatsführung gekommen. Vor allem Expräsident Janukowitsch und sein Innenminister Witali Sachartschenko wurden verdächtigt.

Nun hat ein Fotojournalist aus der Ukraine der BBC berichtet, er habe in einem Gebäude am Maidan Fotos von Männern mit Jagdgewehren gemacht. Sie hätten ausgesehen wie Maidan-Demonstranten und auf Dächern rund um den Maidan Position bezogen.

Der Jahrestag der Schüsse vom Maidan sollte der Schlusspunkt einer einjährigen Trauerphase sein. Die Lage hat sich seither allerdings stetig verschlechtert. Die Spirale der Gewalt nahm vor einem Jahr erst ihren Anfang (Nina Jeglinski aus Kiew, DER STANDARD, 21.2.2015)