In "L'invitation au voyage" (2014) rekonstruiert Meggy Rustamova anhand von Fotos die Geschichte einer Verschwundenen.

Foto: Meggy Rustamova

Wien - Der allwissenden Müllhalde Wikipedia sei Dank. Ob es um Hülsenfrüchte geht oder um Quantenphysik, um Religion oder Wrestling: Ein paar Wischer auf dem Smartphone, und man fühlt sich informiert. Will man sich in Gesprächen keine Blöße geben, konsultiert man auf dem Klo das Lexikon, sagen wir: zu Homers Odyssee. Man erfährt dann, dass das antike Epos mit seinen rund 12.000 Versen eine Zeitlang bloß mündlich überliefert worden sein soll.

Der Grieche Hesiod nannte die Musen "Töchter der Erinnerung", und die Mnemotechnik wurde in der Antike schöne Kunst. Das ist zumindest eine mögliche Auffassung von Homers Poesie: dass die Rhythmik des Satzbaus, die auf "Formeln" beruhende Struktur, all die Kunstfertigkeit vor allem dazu gedient habe, das Gedächtnis der Erzähler zu unterstützen.

Immer noch auf dem Klo, wischt man sich dann, ratzfatz und wie nichts vorbei an der Erfindung der Schriftlichkeit und des Computers, zurück in die Gegenwart. Hier hat die Kunst andere Sorgen. Sie muss die Scherereien reflektieren, die sich eingestellt haben, seit das Wissen in einer Wolke gespeichert ist; seit der alte Lehrerscherz "Man muss nur wissen, wo man nachschauen muss" auf folgenreiche Art ernst geworden ist; seit Suchmaschinen wissen, was wir wollen, bevor wir fertiggeschrieben haben; seit die Erde keine Scheibe mehr ist, sondern eine Google.

Dementsprechend steht medien- oder technologiekritische Kunst im Zentrum, wenn die Kunsthalle unter dem Titel The Future of Memory derzeit nach dem aktuellen Zustand des Gedächtnisses fragt - des individuellen wie des kollektiven. Welche Auswirkung hat die Digitalität auf das Denken? Marshall "The medium is the message" McLuhan hätte wohl ebenso seinen Spaß mit der Schau wie die Theoretiker der Hyperrealität, also jener Wirklichkeit, die nur mehr aus Ab- und Scheinbildern der Körperwelt besteht. Wenn es laut Untertitel auch um die Unendlichkeit der Gegenwart gehen soll, dann durch die Annahme, dass Zukunft und Vergangenheit durch die Bilderflut nivelliert werden sollen.

Klinisch weiße Teufelswiege

Betritt man die Ausstellung, fühlt man sich gleich einmal wie mitten in einem modernen Gehirn. Es tönt von allen Seiten. Der fabelhafte Soundbastler Florian Hecker ist mit einer Installation über Störgeräusche vertreten. Die Band Without Letters musiziert in einer Videoarbeit von Deimantas Narkevic, die die Sehgewohnheiten irritiert, indem sie beim Zoomen und Schwenken der Kamera den Bilderrahmen statt des Ausschnittes verändert.

So weit, so gut, wäre da nicht auch noch eine Arbeit über Pharrell Williams' Happy: Dragana Zarevac zeigt in einem Raster selbstgedrehte Videos zum Hit simultan, die auf Youtube hochgeladen wurden: Menschen tanzen in Blumenwiesen und auf Mittelstreifen, in Gruppen oder allein, in weiten und knappen Gewändern, bisweilen auf dem Kopf stehend. Doch so interessant das Phänomen sein mag, dass hier eine irritierende Verdopplung aus Tanzen und Sagen-dass-man-glücklich-ist riesigen viralen Erfolg feierte: Irgendwann verfällt man auf den Gedanken, dass Zarevacs Arbeit ohne Ton vermutlich stärker, weil verfremdeter wäre.

Hat man sich einmal an der Soundmischmasch gewöhnt, kann man zum Beispiel Dodoli de Luxe Grey von Katja Novitskova entdecken. Die 1984 in Tallinn geborene und in Amsterdam lebende Künstlerin zeigt eine robotische Wiege, die bedrohlicher anmutet als jene, in der in Polanskis Rosemary's Baby der Teufel heranwuchs: In klinischem Weiß gehalten, schaukelt sie vollautomatisch das Kind - die Geschwindigkeit ist einstellbar. Die Wiege kann aber auch den Herzschlag der Mutter nachahmen oder digital verzerrtes Vogelgezwitscher von sich geben, während sich über dem Baby ein Mobile aus Fischködern dreht.

Im engeren Sinne um das Verhältnis von Technik und Denken geht es etwa in der Arbeit Mainsqueeze von Jon Rafman: Der kanadische Künstler kompilierte aus Internetvideos eine Tour durch menschliche Abgründe, in der zwischendurch auch die Kunstgeschichte wie nichts vor einem vorbeigewischt wird. (Roman Gerold, DER STANDARD, 19.2.2015)