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Soldaten der ukrainischen Streitkräfte in Debalzewe.

Foto: REUTERS/Gleb Garanich

Kiew - Vor dem geplanten Inkrafttreten einer Waffenruhe haben in der Ostukraine am Freitag weiter heftige Kämpfe getobt. Binnen 24 Stunden wurden nach Angaben der Armee und der Separatisten mindestens 27 Zivilisten und Soldaten getötet. Am heftigsten waren die Gefechte rund um den wichtigen Verkehrsknotenpunkt Debalzewe.

Präsident Petro Poroschenko warf Russland am Freitagabend eine "deutliche Ausweitung" der Offensive in der Ukraine vorgeworfen. "Leider ist nach dem Abkommen von Minsk die offensive Operation Russlands deutlich ausgeweitet worden", sagte Poroschenko am Freitag bei einem Treffen mit dem ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orban in Kiew. Seine Regierung sehe das Abkommen "in großer Gefahr".

Die prorussischen Rebellen wollten noch vor der Waffenruhe über Debalzewe sowie über der Hafenstadt Mariupol "ihre Flagge hissen", sagte der stellvertretende ukrainische Verteidigungsminister Petro Meched. "Die Ukraine erwartet eine Eskalation und ergreift alle notwendigen Schritte, um darauf reagieren zu können", betonte er.

Die Kiewer Regierung und die prorussischen Rebellen hatten sich am Donnerstag nach einem Verhandlungsmarathon auf ein "Maßnahmenpaket" zur Umsetzung der Minsker Verträge von Anfang September verständigt. Die Waffenruhe tritt am Sonntag 00.00 Uhr (Samstag 23.00 Uhr MEZ) in Kraft. Zudem wurden der Abzug schwerer Waffen und die Einrichtung einer Pufferzone vereinbart.

Laut dem Kreml-nahen Journalisten Andrej Kolesnikow wurde bei den Minsker Verhandlungen nahezu die Hälfte der Zeit darüber diskutiert, ob es den "Kessel von Debalzewe" gebe oder nicht. Während der ukrainische Präsident Petro Poroschenko das bestreitet, berief sich der russische Präsident Wladimir Putin auf Angaben von Separatisten, wonach 6.000 bis 8.000 Menschen eingekesselt worden seien. "Sie gehen davon aus, dass diese Gruppe die Waffen niederlegt und den Widerstand aufgibt", sagte Putin.

Strategisch wichtige Stadt

Für die Separatisten ist Debalzewe von strategischer Bedeutung. Die seit Wochen heftig umkämpfte Stadt liegt an der wichtigsten Straßen- und Eisenbahnverbindung von Donezk nach Luhansk, den zwei Hauptorten der Rebellen.

Der russische Militärexperte Wiktor Murachowski schätzt die Stärke der ukrainischen Verbände im Gebiet der entvölkerten Stadt auf 2.500 bis 3.000 Mann, denen 1.500 Angehörige der separatistischen Volkswehr gegenüberstehen. Die Einkesselung sei eine Tatsache, betonte der Oberst der Reserve im Gespräch mit der APA. Die Straße nach Artemiwsk sei vermint und könne von der Volkswehr unter Beschuss genommen werden.

Heftige Gefechte um diese Straße prophezeit auch der auf Militärfragen spezialisierte Kiewer Journalist Juri Butusow: "Es wird in den nächsten zwei Tagen eine Eskalation von Kampfhandlungen um das Dorf Lohwynowe geben."

Schon allein die Tatsache, dass die Waffenruhe erst drei Tage nach der Minsker Vereinbarung in Kraft tritt, lässt Kämpfe befürchten. "Die Separatisten wünschten sich einen möglichst späten Waffenstillstand, um ihre bösen Absichten in die Tat umzusetzen", schrieb Frankreichs Außenminister Laurant Fabius Donnerstagabend auf Twitter.

Kampf um Debalzewe könnte Waffenruhe vereiteln

Experten befürchten, dass Gefechte um Debalzewe die Waffenruhe noch vor ihrem Inkrafttreten vereiteln könnten. Sollte es 200 oder 300 Tote auf zumindest einer der beiden Seiten gebe, werde jener Prozess gesprengt, der gerade begonnen habe, zitierte die russische Nachrichtenagentur RBK den Politologen Arnaud Dubien vom Observatoire franco-russe. "Diese Entwicklung der Situation ist leider äußerst wahrscheinlich", sagte Dubien.

Das Onlinemedium "Ukrajinskaja Prawda" verwies zudem auf jene Schwierigkeiten bei der Umsetzung des Minsker Memorandums, die sich aus der militärischen Lage um Debalzewe ergeben: Dort sei unklar, von welcher Linie sich ukrainische Verbände 25 Kilometer zurückziehen sollen.

Die Auseinandersetzung um Debalzewe erinnert an eine der verlustreichsten Episoden dieses Kriegs in der Ukraine: Wenige Tage vor dem Inkrafttreten eines ersten Waffenstillstands am 5. September 2014 waren mehr als 200 ukrainische Soldaten in der Kesselschlacht von Ilowajsk gefallen. Die Kleinstadt wird seither von der "Volksrepublik Donezk" kontrolliert.

Kämpfe gehen weiter

Schon bisher gehen die Kämpfe an mehreren Orten trotz des vereinbarten Waffenstillstandes weiter. Bei einem Granatbeschuss der Stadt Schastye nahe Luhansk wurden nach Angaben der Regionalbehörde am Freitag zwei Zivilsten getötet und sechs weitere verletzt. "Das Geschoss traf ein Café, in dem sich viele Menschen aufgehalten hatten", erklärte Verwaltungschef Hennadiy Moskal. Weitere Granaten seien in anderen Gebiete der Stadt eingeschlagen. "Die Wärmeversorgung der Stadt ist zusammengebrochen, Strom- und Wasserleitungen sind ebenso beschädigt."

Beschlossene EU-Sanktionen treten in Kraft

Unterdessen hat der EU-Gipfel in Brüssel die Minsker Vereinbarung über den Waffenstillstand begrüßt, sich aber weitere Maßnahmen gegen Russland vorbehalten. "Wenn es Schwierigkeiten gibt, schließen wir weitere Sanktionen nicht aus", sagte die deutsche Kanzlerin Angela Merkel am Donnerstagabend nach Abschluss des Gipfels. Sie bestätigte zudem, dass die von den Außenministern jüngst beschlossene Ausweitung der Visa- und Kontensperren auf 19 Ukrainer und Russen trotz des Minsker Abkommens in Kraft treten soll, denn die Sanktionen seien wegen des Beschusses der Stadt Mariupol verhängt worden.

Auch der britische Premierminister David Cameron, Frankreichs Präsident Francois Hollande und EU-Ratspräsident Donald Tusk sprachen von einer klaren Botschaft an Russland, dass die in Minsk zugesagten Schritte für eine Deeskalation erfüllt werden müssten.

Frankreich liefert vorerst keine Kriegsschiffe an Russland

Auch der Verkauf von zwei französischen Mistral-Kriegsschiffen an Russland bleibt trotz der Einigung auf eine Waffenruhe blockiert. Die Voraussetzungen für eine Auslieferung seien weiter nicht erfüllt, sagte Hollande beim EU-Gipfel. Er hoffe aber, dass das "eines Tages" erfolgen könne.

Wenn die Ukraine-Krise beigelegt werde, würden "auf europäischer Ebene auch Schritte ergriffen, um die Sanktionen zu lockern", die gegen Russland verhängt wurden. "Aber an diesem Punkt sind wir noch nicht." (APA, Reuters, 13.2.2015)