London - Die NATO ist nach Ansicht des Internationalen Instituts für Strategische Studien (IISS) in London nur unzureichend auf Konflikte wie in der Ukraine vorbereitet. Das westliche Bündnis müsse "dringend" Antworten auf die "hybride Kriegsführung" finden, wie sie von Russland in der Ostukraine praktiziert werde, heißt es in dem am Mittwoch veröffentlichten Jahresbericht des Londoner Instituts.

Derartige Bedrohungen hätten das Potenzial, westliche Staaten "schnell zu destabilisieren". Moskau führe in der Ostukraine einen "begrenzten Krieg mit begrenzten Zielen", schreiben die IISS-Experten. Der Westen werde von Moskau gezielt verwirrt, in dem der Kreml eine russische Beteiligung an dem Konflikt fortwährend abstreite. Dadurch werde eine gezielte Reaktion erschwert.

"Ausgehöhlte" Streitkräfte

Mit Blick auf mögliche Waffenlieferungen an die Ukraine, wie sie die USA erwägen, weisen die IISS-Experten auf die "ausgehöhlten" ukrainischen Streitkräfte hin, die weitgehend auf Kriegsgerät aus Sowjetzeiten zurückgreifen müssten. Dagegen habe Russland sein Verteidigungsbudget von umgerechnet 27,9 Milliarden Euro 2013 auf 44,1 Milliarden Euro in diesem Jahr erhöht.

Bei der sogenannten hybriden Kriegsführung kombinieren staatliche oder nicht-staatliche Akteure konventionelle und verdeckte militärisch-strategische Mittel. Dazu werden neben konventionellen Waffen, Einheiten und Techniken auch irreguläre Mittel eingesetzt, die bis hin zu kriminellen und terroristischen Mitteln reichen können.

Das Spektrum reicht von Partisanentaktiken über energiepolitische Maßnahmen bis hin zur Cyber-Kriegsführung. Das IISS führt dazu in seinem Bericht an, dass Russland in der Ostukraine und bei der Annexion der Halbinsel Krim unterschwellige konventionelle und Spezialoperationen mit Kampagnen in den sozialen Medien kombiniere, um die öffentliche Meinung in dem Konflikt gezielt zu beeinflussen.

"Schwerwiegende Bedrohung"

Solche Taktiken bedeuteten eine "schwerwiegende Bedrohung für die kollektive Sicherheit der NATO", schreiben die IISS-Experten weiter. "Grauzonen" würden genutzt und "Spaltungen in der Allianz ausgenutzt". Die Auswirkungen dieser Taktiken könnten über die Ukraine hinaus Folgen haben. So könne Russlands Beispiel "hybrider Kriegsführung" Schule machen. Politiker müssten sich bewusst werden, dass aktuelle oder künftige mögliche staatliche oder nicht-staatliche Akteure Moskaus Vorbild folgen könnten.

Staaten wie China oder der Iran könnten künftig zu ähnlichen militärischen Mitteln greifen, schreiben die IISS-Autoren. Die Lehren aus dem Ukraine-Konflikt müssten dabei "nicht notwendigerweise in Konflikten mit westlichen Staaten" angewendet werden, aber "ihr Potenzial, die bestehende Ordnung schnell zu destabilisieren, könnte bedeuten, dass sie globale Auswirkungen haben, wenn sie in anderen Bereichen politischer oder militärischer Konkurrenz angewendet werden".

In einem anderen aktuellen Konflikt sehen die IISS-Experten "thematische Ähnlichkeiten" mit dem russischen Vorgehen in der Ukraine: Die Jihadistenmiliz "Islamischer Staat" (IS) bediene sich ebenfalls geschickt der sozialen Medien, etwa um Kämpfer zu rekrutieren. Gruppen wie der IS hätten durch ihre "Flexibilität" Erfolg. Die "hybride, anpassungsfähige Natur" des IS sei Folge einer Organisationsstruktur, die eine Mischung aus "zum Teil Aufständischen-Gruppe, zum Teil leichter Infanterie und Teilzeit-Terrorgruppe" sei.

Dagegen seien westliche Armeen noch viel zu sehr konventionellen Taktiken verschrieben. Sie müssten verstärkt ihr Augenmerk auf Gegenmaßnahmen gegen feindliche Propaganda richten, Geheimdiensterkenntnisse sammeln und auswerten sowie die Einsatzfähigkeit ihrer Streitkräfte verbessern. Die US-geführten Luftschläge und die regionalen Bodentruppen hätten bisher nur etwa ein Prozent der Fläche zurückgewinnen können, die zuvor von IS-Kämpfern eingenommen wurde, warnte der IISS-Generalsekretär, John Chipman.

Der Konflikt mit dem IS in Verbindung mit den Folgen des Arabischen Frühlings habe auch dazu beigetragen, dass die Verteidigungsausgaben in den Ländern des Nahen Ostens sprunghaft nach oben geschossen sind. Die Militärbudgets in der Region seien bis zum Jahr 2011 jährlich um 3,5 Prozent gestiegen. Nun rechnen die Londoner Militärexperten mit einer Steigerung um zehn Prozent pro Jahr.

Der 171 Länder umfassende IISS-Bericht widmet sich zudem Chinas wachsendem militärischem Gewicht vor allem in Asien. Der Verteidigungshaushalt Chinas mache 38 Prozent der gesamten asiatische Verteidigungsausgaben aus; im Jahr 2010 sei der Anteil noch bei 28 Prozent gelegen. Im vergangenen Jahr habe Peking die Militärausgaben um 12,2 Prozent hochgefahren. Der regionale Kontrahent Japan habe im vergangenen Jahr nach langer Stagnation seine Verteidigungsausgaben um 2,2 Prozent erhöht.

Weltweit stiegen die Verteidigungsausgaben im Jahr 2014 um 1,7 Prozent - der erste Anstieg seit 2010. Die USA als weiterhin mit Abstand größte Rüstungsnation büßen an Bedeutung ein. 2010 gaben die USA fast die Hälfte des weltweit für Rüstung aufgewandten Geldes aus, 2014 waren es nur noch 38 Prozent. Das EU-Land mit den höchsten Rüstungsausgaben ist Großbritannien: Es liegt mit einem Etat von 61,8 Mrd. Dollar (54,70 Mrd. Euro) auf Platz fünf der Rangliste. (APA, 11.2.2015)