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Mitarbeiter der Küstenwache konnten am Montag 29 Menschen nur mehr tot bergen. Das UNHCR befürchtet nun eine weit größere Opferzahl.

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Einer der neun geretteten Flüchtlinge bei der Ankunft im Hafen von Lampedusa.

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Rom – Zunächst war "nur" von 29 Toten die Rede gewesen: Die italienische Küstenwache hatte in der Nacht auf Montag 100 Seemeilen südlich von Lampedusa etwa einhundert Flüchtlinge aus einem Schlauchboot geborgen, das in einem eisigen Wintersturm und bei bis zu neun Meter hohen Wellen in Seenot geraten war. Sieben Flüchtlinge waren bereits tot – erfroren oder vom ständigen Sich-Übergeben-Müssen dehydriert. 22 weitere starben später vor den Augen der machtlosen Retter an Unterkühlung. Die Flüchtlinge – alles Afrikaner – waren vor ihrer Bergung 30 Stunden unterwegs gewesen und völlig durchnässt.

Dass es nicht bei den 29 Toten bleiben würde, war den Rettern schnell klar: Zusammen mit dem Schlauchboot waren zwei weitere Boote unterwegs gewesen, auf denen sich laut der Küstenwache insgesamt nur noch neun Personen befanden. Nach der Befragung der Überlebenden war klar, wo die anderen geblieben waren: Die entkräfteten Flüchtlinge waren von den haushohen Wellen ins Meer gespült worden, wo sie höchstwahrscheinlich ertranken. Eine Sprecherin des UNO-Flüchtlingshilfswerks UNHCR erklärte gegenüber italienischen Medien, dass zumindest 203 Menschen vermisst würden – eine "schreckliche und enorme Tragödie". Nachrichtenagenturen berichteten gar von mehr als 300 Vermissten.

Kritik an Ende von "Mare Nostrum"

"Ein Horror", betonte auch die Präsidentin der italienischen Abgeordnetenkammer, Laura Boldrini. Und: "Das ist die Konsequenz aus der Beendigung der Aktion 'Mare Nostrum'." Im Rahmen der Aktion waren Schiffe der italienischen Marine bis auf wenige Kilometer an die libysche Küste gefahren, um bei einem Schiffbruch schneller eingreifen zu können. "Mare Nostrum" war als Reaktion auf ein Flüchtlingsdrama begonnen worden, bei dem im Oktober 2013 vor Lampedusa 366 Flüchtlinge ums Leben kamen. Die Aktion gilt aus humanitärer Sicht als Erfolg: Von den 170.000 Flüchtlingen, die im vergangenen Jahr in Italien angekommen sind, waren etwa 85.000 im Rahmen von "Mare Nostrum" gerettet worden.

Die Aktion wurde im Dezember durch das Programm "Triton" der europäischen Grenzschutzorganisation Frontex ersetzt. Angesichts der hohen Flüchtlingszahlen war auf EU-Ebene kritisiert worden, dass "Mare Nostrum" für die Schlepper einen Anreiz darstelle, noch mehr Flüchtlinge in noch seeuntüchtigeren Booten nach Europa zu schleusen – die Rettung durch die Italiener sei ja gewiss. Die "Triton"-Schiffe, die keinen humanitären Auftrag haben, bewegen sich lediglich innerhalb von 30 Meilen vor der italienischen Küste und dienen einzig dem Schutz der EU-Außengrenze. Die Aktion wird vom UNHCR und anderen Hilfswerken als völlig unzureichend bezeichnet.

Trotzdem mehr Flüchtlinge

Auch die Annahme, dass sich mit der Einschränkung des Einsatzgebiets der Flüchtlingsstrom verringern werde, hat sich bereits als Irrtum erwiesen, wie die Zahlen belegen: Unter "Mare Nostrum" waren im Jänner 2014 noch 3.300 Flüchtlinge in Italien angekommen – unter "Triton" waren es bis Ende Jänner 2015 schon 3.700. "Keiner der Bürgerkriege, die zur Massenflucht aus Syrien und Afrika führen, ist inzwischen beendet worden, und an der libyschen Küste, von wo aus die meisten Flüchtlinge in See stechen, regiert weiterhin das Chaos", heißt es dazu aus dem italienischen Innenministerium. Außenminister Paolo Gentiloni hat am Mittwoch in Reaktion auf die Bootsunglücke eine Ausdehnung der Grenzschutzmission gefordert. "Der Triton-Einsatz genügt nicht, das ist nur der Anfang", sagte er. Auch der Papst mahnte Solidarität mit den Flüchtlingen und mehr Einsatz für ihre Rettung ein.

Sondersitzung der EU-Außenminister

Das Einzige, was sich mit dem Wechsel zu "Triton" ändern wird, dürfte die Zahl der ertrunkenen Flüchtlinge sein: Sie wird sich, darin sind sich Experten und Hilfsorganisationen nicht erst seit dem jüngsten Drama einig, im Vergleich zu 2014 wieder dramatisch erhöhen. Die EU-Außenbeauftragte, die Italienerin Federica Mogherini, hat angekündigt, "in den nächsten Tagen" die EU-Außenminister zu einer Sondersitzung einzuberufen, um die europäische Migrationspolitik zu überprüfen. Auch der EU-Kommissar für Migration, Inneres und Bürgerschaft, der Grieche Dimitris Avramopoulos, erklärte auf Twitter, Europa müsse mehr tun: "Jedes verlorene Leben ist eines zu viel", schrieb der EU-Kommissar. (Dominik Straub aus Rom, derStandard.at, 11.2.2015)