Freerider navigieren zwischen Felsen durch, springen über Klippen zehn Meter in Abgründe - und vermarkten sich selbst.

Fabian Lentsch hat sich trotz seiner Jugend schon einen Namen gemacht. Der 21-jährige Tiroler verfügt über viel Gespür für Schnee, hatte aber auch schon viel Glück, als er einst einer Lawine entkommen konnte.

Foto: ©freerideworldtour.com / DAVID CARLIER

Safety.

Fieberbrunn - Wenn Flo Orley Schneisen durch den Tiefschnee zieht, sein Brett zwischen Felsen und Hängen durch navigiert und über Klippen zehn Meter in den vermeintlichen Abgrund springt, dann kann Snowboarden nicht spektakulärer sein. Keine Sicherheitsnetze, keine Regeln, kein starres System - aber cool bis an die Schmerzgrenze: Die Freerider sind die Surfer der Steilwand.

Sind sie auch verrückt? "Ein bisschen schon. Du fährst auf einen 70 Grad steilen Felsen zu, der Radius der Landezone beträgt zwei Meter. Die musst du einfach treffen, kannst nicht vorher schauen oder einen Bremsschwung setzen. Es geht um richtige Gefahreneinschätzung und um viel Erfahrung", sagt Orley.

Der 39-Jährige Tiroler schmückt seit 15 Jahren die Free Ride World Tour (FWT), ist quasi Dienstältester. Die Serie startete heuer im französischen Chamonix, am Mont Blanc, auf rund 4500 Metern Höhe. Nach dem Stopp in Tirol in Fieberbrunn bzw. Kappl folgen noch Wettkämpfe in Andorra, Alaska und das Saisonfinale in Verbier in der Schweiz.

Großes Budget

Skifahrer und Snowboarder, Damen wie Herren, geben sich gleichermaßen die Ehre. Die Veranstaltungen sind keine kleinen Feste. Fieberbrunn hat mittlerweile ein Budget von 800.000, die FWT insgesamt sechs Millionen Euro. Dafür stehen unter anderen auch bei jedem Wettkampf zwei Dutzend Bergretter, mehrere Ärzte und ein Hubschrauber zur Verfügung. Die Sicherheit der Fahrer steht an höchster Stelle. "Bei uns sind die Fahrer im Schnitt zehn Jahre älter als etwa bei einem Big Air Event. Dort kann auch einmal ein 15-Jähriger gewinnen. Das geht beim Freeriden nicht. Selbst bei besten Bedingungen kann das Bauchgefühl Nein sagen und dann riskiert man eben nichts", sagt Orley.

Die Ausnahme der Regel heißt Fabian Lentsch. Der 21-Jährige Tiroler war bereits 2012 in Fieberbrunn am Start, als jüngster Teilnehmer in der Geschichte der FWT. Lentsch fährt Ski, verfügt über viel Gefühl für den Schnee, hatte aber auch schon viel Glück. In Zell am See bog er einmal im Training aus einer Lawine gerade noch ab. "Du musst schneller unterwegs sein als der abgehende Schnee, sonst kannst du die Ski nicht lenken." Die Lawinengefahr soll auf der Tour gegen Null gehen, versichern die Veranstalter. Schneebretter werden bis zum Vorabend des Bewerbs aus den Steilwänden gesprengt. In Kappl gingen dennoch die Schneemassen ab, der Franzose Julien Lopez kam mit leichten Verletzungen davon, der Contest wurde verschoben.

Lentsch verdingt sich als Red Bull-Athlet, ziert diverse Videoprojekte und sagt: "Das Kamerasetting, das Wetter und das Geld können stimmen, aber ich entscheide am Ende ob ich fahre oder nicht." Knallhartes kalkulieren. Das klingt wie ein Mantra einer Szene, Orley und Lentschs Worte werden im Fahrerlager zitiert wie Bibel-Verse. Es ist eine Szene der Nonkonformisten. Beim Abendessen im Athletenhotel ist nur schwer auszumachen, wer Fahrer, Sponsor, Journalist oder Punkterichter ist. Fast alle Leute tragen Wollmützen und Kappen, die auch auch beim Essen auf dem Kopf bleiben. Der Schlabberlook gehört genauso dazu wie großflächige Sonnenbrillen, Schlurfgang und extrem breite Ski.

Manche Fahrer bieten Yoga-Einheiten während der Tour-Aufenthalte an, der gegenseitige Respekt dominiert. Die Szene ist aber nicht mehr so homogen wie vor fünfzehn Jahren, als es die FWT noch gar nicht gab. "Früher diskutierten wir gemeinsam am Abend vor dem Contest die Linienwahl am Berg", sagt Orley. Heute legen sich die Athleten intravenös Zugänge an ihre Laptops. Die Zeit im Tal wird viel mit Selbstvermarktung auf personalisierten Homepages, Facebook und Twitter verbracht.

Von der wilden Fahrerei auf der Tour können nämlich nur die wenigsten leben. In Fieberbrunn gibt es 8.000 Euro für die Sieger. Mehr Geld lässt sich mit Freeride-Filmen und Fotoshootings verdienen. Wenn Fabian Lentsch von Vorbildern spricht, dann vor allem von ihrem Lifestyle. So berichten die Größen der Freeride-Szene von monatelangen Törns mit Segelboot und Surfbrett durch den Pazifik, von Campingbus-Reisen und Bergen, die abgefahren werden wollen von Kitzbühel bis nach Kirgistan.

Abseits

In Zeiten des Massentourismus sorgt das freie Gelände abseits von gesicherten Skipisten für immer mehr Anziehungskraft. Die FWT boomt, die Serie soll in den kommenden Jahren nach Asien und nach Südamerika expandieren. Startplätze auf der Tour sind heiß begehrt, hunderte Fahrer hoffen in weltweit 30 Qualifikationsturnieren einen der maximal 20 Startplätze (jeweils für Ski und Snowboarden) zu ergattern. Die Freerider sind einen weiten Weg gegangen. Anfang der 90er Jahre gab es die ersten Extremski-Wettbewerbe in Alaska, 2008 wurde die Tour ins Leben gerufen. Und mittlerweile? Stellt sich die Frage ob Freeriden nicht auch olympisch werden könnte. Der Schweizer Nicolas Hale-Woods, Gründer der FWT, soll gute Kontakte zum Internationalen olympischen Komitee pflegen. Vor vier Jahren ging zuletzt ein Contest in Sotschi über die Bühne, die spektakulären Berg-Bilder waren die perfekte Werbung für die olympischen Winterspiele in Russland.

Flo Orley sieht das nicht nur positiv für den Sport. Es gäbe viele Unwägbarkeiten beim Freeriden. "Wir brauchen perfektes Wetter, ein bestimmtes Gelände. Wir haben keine Terminsicherheit, Contests können um Tage verschoben werden." Nachsatz: "Wir würden viele Freiheiten verlieren, sind nicht so straff organisiert wie die Rennläufer bei der FIS."

Sicherheit vor

Bei Verschiebung von Wettkämpfen ist die FWT nicht zimperlich. Die Sicherheit der Fahrer hat oberste Priorität. Im Falle des Tourstopps in Österreich schaute Fieberbrunn teilweise durch die Finger. Aufgrund schlechter Wetter- und Schneeverhältnisse konnte nur der Damen-Skiwettbewerb durchgeführt werden. Die Herren mussten nach Kappl im Tiroler Paznaun ausweichen. Und das obwohl die Kitzbüheler Alpenregion große Geldsummen als Sponsor investiert.

Die Freerider unterwegs als Nomaden auf der Jagd nach dem nächsten Powderschnee. Sind sie auch Winter-Hippies? Orley: " Wir sind Freigeister mit verschiedenen Lebenseinstellungen. Aber wir leben alle irgendwo einen gemeinsamen Traum, möglichst viel Zeit draußen zu verbringen." (Florian Vetter, DER STANDARD, 6.2.2015)