Wien - Die von Justizminister Wolfgang Brandstetter (ÖVP) im vergangenen Frühling angekündigte Reform des Maßnahmenvollzugs nimmt Gestalt an. Eine Arbeitsgruppe von Experten, welche den Ist-Zustand evaluieren sollte, trat am Freitagnachmittag zu ihrer letzten Sitzung zusammen, bei der sie einen Bericht an den Minister verabschieden hat.
Justizminister Wolfgang Brandstetter (ÖVP) kündigte an, er werde versuchen, "die überzeugenden Vorschläge zum Maßnahmenvollzug möglichst rasch umzusetzen".

Steigende Zahlen

Laut einer Rohfassung des Berichts, der dem Ö1-Morgenjournal zufolge kaum noch abgeändert wird, ist das Hauptziel, die gegenwärtige Entwicklung zu stoppen. Es gebe nämlich eine "wachsende Population an Insassinnen und Insassen des Maßnahmenvollzugs". Das sei einerseits auf die steigende Anzahl eingewiesener Personen, andererseits auf die zunehmende Anhaltedauer zurückzuführen. "Vereinfacht gesagt, es gelingt nicht die zunehmende Zahl der Einweisungen durch steigende Entlassungen zu kompensieren", heißt es in dem Berichtsentwurf.

Außerdem sei zu beobachten, "dass in den vergangenen zehn Jahren eine Öffnung des Maßnahmenvollzugs für Personen mit minderschwerer Kriminalität stattgefunden hat", konstatieren die Experten. Bei der Einweisung an sich zurechnungsfähiger, aber unter Einfluss einer geistigen oder seelischen Abartigkeit größeren Ausmaßes handelnder Täter (Paragraf 21/2 StGB) stellte die Arbeitsgruppe fest, dass die Verhängung einer Maßnahme "zunehmend mit der Verhängung einer kurzen Freiheitsstrafe kombiniert wird". Das bedeutet offenbar, dass die Verurteilten auch länger im Verzug bleiben, als sie es nach der Strafdauer eigentlich müssten: "Nur die wenigsten werden mit dem Strafende auch aus der Maßnahme entlassen", heißt es im Bericht. Die Experten stellten auch beim Maßnahmenvollzug gegen zurechnungsunfähige Täter (Paragraf 21/1 StGB) fest, dass es "eine Tendenz zu Einweisungen wegen Delikten mit geringerem Gefährdungspotenzial" gebe.

Unverhältnismäßig

Die Arbeitsgruppe wies aber darauf hin, dass "im Hinblick auf die Einweisungen und die Anhaltedauer (...) der Maßnahmenvollzug fremdbestimmt und von der Einweisungs- und Entlassungspraxis der Gerichte abhängig" sei. Mehrere Kritikpunkte listet der Bericht in seiner Rohfassung auf, die zu dieser Entwicklung geführt hätten: An erster Stelle wird die "radikale Öffnung und Verkleinerung der psychiatrischen Krankenanstalten" genannt, ohne dass ausreichende Begleitmaßnahmen im ambulanten und stationären Bereich geschaffen worden seien.

Dazu wird die ständig größere Zahl an Eingewiesenen gegenüber Entlassenen angeführt, weiters der Anstieg der Anhaltedauer und die zunehmende Zahl von Einweisungen auch bei Verurteilungen zu Freiheitsstrafen unter einem Jahr sowie die "unverhältnismäßige Relation von Strafausmaß und Anhaltedauer". Außerdem kritisieren die Experten "die zunehmende Tendenz der Länder und Sozialversicherungsträger, sich unter dem allgemeinen Spardruck ihrer (finanziellen) Verantwortung für versicherte Patientinnen und Patienten, insbesondere nach deren Entlassung aus dem Maßnahmenvollzug, zu entziehen".

Überforderung des Personals

Dazu würde das gesteigerte Sicherheitsbedürfnis der Gesellschaft Gutachter beeinflussen und damit auch die Entscheidungen der Gerichte über Unterbringungen und Entlassungen beim Maßnahmenvollzug. Nicht zuletzt ortete die Arbeitsgruppe eine "Überforderung des Strafvollzugspersonals mit psychisch kranken" Insassen. Die Experten empfahlen in einem 93 Punkte umfassenden Katalog unter anderem, den Maßnahmenvollzug nicht mehr in Justizanstalten umzusetzen. Es müsse der Charakter der "Sozial- und Milieutherapie" im Vordergrund stehen. Die Anhaltung in eigenen therapeutischen Anstalten trage auch dem "von der Rechtsprechung des EGMR (Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Anm.) eingeforderten Abstandsgebot am besten Rechnung. Der Begriff "geistige oder seelische Abartigkeit höheren Grades" solle durch eine "neutrale, soweit als möglich mit Artikel 14 der Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen vereinbare Definition" ersetzt werden.

"Schwerwiegende geistige oder seelische Störung" schlägt die Arbeitsgruppe vor, weil durch den Begriff "Störung" der Krankheitsbegriff im Vordergrund stehe. Die Strafdrohung sollte nach Meinung der Arbeitsgruppe erhöht, bestimmte Gruppen von strafbaren Handlungen ausgenommen werden. Demnach sollte eine Einweisung nur bei Verbrechen (Strafdrohung mehr als drei Jahre) möglich sein. Eigentumsdelikte ohne Gewalt gegen Personen sollten dabei ausgenommen sein.

Lebenslang für Jugendliche hintefragt

Eine lebenslange Einweisung für Jugendliche sollte unzulässig werden. Zurechnungsunfähige Täter sollten den Gesundheits- und Sozialsystemen der Länder übergeben und Heimträger gesetzlich verpflichtet werden, solche Menschen aufzunehmen. Der Maßnahmenvollzug sollte durch ein eigenes, bundesweit geltendes Gesetz geregelt werden. Alle Einrichtungen sollten den Namen "Therapeutisches Zentrum ..." tragen. Die Expertengruppe trat auch für die bereits seit langem geforderte Einrichtung eines Lehrstuhls für forensische Psychiatrie ein. In der Facharztausbildung sollte die Möglichkeit einer Spezialisierung in dieser Richtung geschaffen werden. Außerdem wünscht die Arbeitsgruppe eine spezifische Qualifizierung von Richtern und Staatsanwälten sowie die entsprechende Ausbildung der Richteramtsanwärter im Bereich der forensischen Psychiatrie und Psychologie.

Der Grüne Justizsprecher Albert Steinhauser begrüßte am Freitag den Expertenbericht. Er forderte, dass die Reformvorschläge nun rasch umgesetzt würden. (APA, 30.1.2015)