Sinnesschwacher Griff zum Schädel: Faust (Julian Loidl).


Foto: Judith Stehlik

Wien - Gernot Plass' Faust-Theater ist ein kleines Prachtstück der Klassikerbearbeitung. Der künstlerische Leiter des Theaters an der Gumpendorfer Straße hat bei Schwergewichten der Dramenliteratur längst Übung. Seit einigen Saisonen ruckelt er die alten Stoffe erfolgreich neu zurecht; einige seiner Neudichtungen (darunter Hamlet oder Moorland nach Schillers Räubern) waren auch für den Nestroypreis nominiert.

Das Faust-Theater nun wandelt auf einem schönen Grat: Plass zieht die alte Welt des Gelehrtendramas und seine eigentümlichen Geschehnisse näher heran in die Jetztzeit, ohne die Künstlichkeit und Fremdheit dieser Menschheitsparabel zu verraten. Er beackert die Szenen mit neuen Versen, wobei Wohlklang und Wohlgestalt der Worte alleweil Vorzug genießen (kein geringes Verdienst), und zugleich bleibt diese Dichtung vollends geerdet. Fausts allererstes Wort ist, weil es die Lebenslage zu sondieren gilt, ein schlichtes "O. K.".

Abseits des Knittelverses nimmt sich Gernot Plass aber alle notwendigen Freiheiten. Große Pointe: Der Tragödie Zweiter Teil hat nur vier Seiten!

Umso sorgfältiger entspinnt der Autor, der sich auch selbst inszeniert, den Dramenanfang. Plass macht das "Vorspiel auf dem Theater" zum Dauerbrenner; er behält diese Spielebene mit Direktor (Georg Schubert), Dichter (Raphael Nicholas) und Clown (Jens Claßen) auch für zwischendurch bei. Motto: Wie kriegen wir drei die Bude unseres Theaters voll, ohne ganz seicht zu werden?

Nach eineinhalb Stunden hängt Faust noch immer in den diffusen Vorhangwänden seines Studierzimmers fest (Bühne: Alexandra Burgstaller) und fragt sich haare-raufend: "Verdammt. Wieso bin ich geschlagen mit IQ?" - so lautet auch der Untertitel des Stücks. Fürwahr: Plassens Faust (Julian Loidl) ist ganz der grüblerische Mann, der alles erforscht hat, aber die rechte Freude am Leben nicht gefunden hat. Midlifecrisis? Aussteigerfantasie? "Immer dieses angelesne Elend". Auf dem "Tiefststand seiner Empfindungen" trinkt er vom Drogenfläschchen aus dem Kühlschrank ("Es baut sich garantiert nicht ab"), woraufhin er ein neues Firmament halluziniert und kurz zum Totenschädel greift. Mephisto (Claßen) hüpft alsbald aus dem Spind und schlägt dem Mann - sie sind per Sie - vor, sich neben dem Alten Testament doch auch einmal dem eigenen Johannes zu widmen.

Gretchen (Elisabeth Veit) wartet schon in der Bar. Ihre Rolle macht das Männerdrama deutlich. Das Brille tragende Gretchen ist ein schwächliches Ding, das dem Faust halt "passiert"; sie ist Anhängerin der Freikirche (Gretchenfrage) und Abtreibungsgegnerin, sie wäre gern Ballorganisatorin, und ergo fallen ihr beim Anblick des hinterlegten Geschmeides die Augen heraus, denn es sind Brillanten, "the real thing", wie sie sagt. Am Ende liegt sie unbeachtet in ihrem Blut, während die Theaterleute vorn an der Rampe weitere Pläne schmieden, ein aussagekräftiges Bild.

Dieses Faust-Theater versteht sich auf sein Original und hebt dennoch mit voller Kraft ab. Es gelingt ein kecker wie eleganter Abend. Die Marthe-Schwertlein-Sequenz: guter Zucker! So muss man die Bude vollkriegen. (Margarete Affenzeller, DER STANDARD, 27.1.2015)