Der kleinliche und für die Überlebenden des NS-Terrorsystems abstoßende politische Streit über die protokollarische Gestaltung der Gedenkfeier zum 70. Jahrestag der Befreiung des deutschen Vernichtungslagers Auschwitz durch die Rote Armee darf nicht die Tatsachen von zentraler Bedeutung überschatten. Auch für dieses größte und bei der systematischen industriellen Ausrottung der Menschen effizienteste Vernichtungslager galt die Formulierung des einstigen Auschwitz-Häftlings und Friedensnobelpreisträgers Elie Wiesel: "Nicht alle Opfer waren Juden - aber alle Juden waren Opfer." Auschwitz wurde zum Inbegriff der Judenvernichtung, obwohl von den geschätzten 5,6 Millionen ermordeten jüdischen Menschen (1,5 Millionen unter 14 Jahre) "nur" 1,1 Millionen hier den Tod in den Gaskammern oder durch Erschießung, durch Hunger, Krankheiten oder im Verlauf medizinischer Versuche fanden.

Obwohl die Literatur über die Shoah längst kaum mehr überschaubar ist, bleibt stets ein Gefühl der Fassungslosigkeit über die Aktionen der Täter, die Reaktionen der Opfer und das Verhalten der Gesellschaften, der politischen und geistigen Eliten in Europa. Dass das deutsche Nachrichtenmagazin Der Spiegel diese Woche eine Titelgeschichte mit Protokollen von 19 ehemaligen Auschwitz-Häftlingen veröffentlicht hat, bestätigt eine Vergangenheit, die nach sieben Jahrzehnten immer noch eine Gegenwart in ihrem Bann hält.

Das deutsche Verbrechen unter dem Nazi-Regime war singulär - mit den Worten des Historikers Eberhard Jäckel - "weil noch nie zuvor ein Staat ... beschlossen hatte, eine bestimmte Menschengruppe, einschließlich der Alten, der Frauen, der Kinder und der Säuglinge, möglichst restlos zu töten, und diesen Beschluss mit allen nur möglichen Staatsmitteln in die Tat umsetzte." In der Geschichte von Erinnern, Verdrängen und Vergessen seien die ungeheuerlichen Untaten auch deswegen nicht "aufzuarbeiten", meinte der Althistoriker Christian Meier (Vierzig Jahre nach Auschwitz), weil die Shoah die "menschliche Verfassungskraft" übersteigt.

In den letzten dreißig Jahren hat das demokratische Deutschland viel getan, um den Holocaust mit "seiner ganzen Ungeheuerlichkeit", wie von Christian Meier gefordert, als Teil der eigenen Geschichte anzuerkennen. Bundespräsident Joachim Gauck betonte bei der Eröffnung des deutschen Historikertages: "Wir sind für unsere Vergangenheit nicht verantwortlich, nur für den Umgang mit ihr."

Das gilt nicht nur für Deutschland, sondern auch für Österreich und Ungarn, Frankreich und die Niederlande, Kroatien und die baltischen Staaten, wo die Mitwirkung oder passive Hinnahme der Bevölkerung die Durchführung der vom Dritten Reich beschlossenen Maßnahmen zur "Endlösung der Judenfrage" erleichterte.

Der Autor dieser Zeilen schreibt als Zeitzeuge und als Mitbetroffener. Das Wissen um Auschwitz und die Shoah muss von Generation zu Generation weitergegeben werden. Der Antisemitismus ist keine Minderheitenfrage oder bloß eine Angelegenheit der Bewachung jüdischer Institutionen; er ist (leider) auch 70 Jahre nach Auschwitz ein zentrales Thema der Zivilgesellschaft. (Paul Lendvai, DER STANDARD, 27.1.2015)