Sogar ein gemütliches Bier zwischendurch bringt nicht die erhoffte Erleichterung: Johannes Kuhnke (re.) und Kristofer Hivju in Ruben Östlunds superbem Film "Höhere Gewalt".

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Der schwedische Regisseur Ruben Östlund.

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STANDARD: Sind Sie mit dem Begriff "postheroische Gesellschaft" vertraut?

Ruben Östlund: Nein, das sagt mir nichts. Was ist damit gemeint?

STANDARD: Man versucht damit zu beschreiben, welchen Mangel das abgesicherte Leben in modernen Gesellschaften erzeugt: Es fehlt - zum Glück - meistens an Gelegenheiten, sich heldenhaft zu bewähren.

Östlund: Ich verstehe, worauf Sie hinauswollen. Meine ursprüngliche Idee für Höhere Gewalt betraf die Beschreibung einer solchen Situation. Ich hatte drei Episoden im Kopf, es ging um gutsituierte Schweden, denen in touristischen Situationen ihre Kontrolle entgleitet. Dann habe ich im Netz diesen Videoclip von Leuten entdeckt, die aus sicherer Distanz einer Lawine zusehen. Anfangs sind alle begeistert, dann hört man auf einmal nervöses Lachen, und schließlich Schreien und totale Panik.

STANDARD: Im Film haben Sie diesen Clip rekonstruiert: Thomas und Ebba und ihre beiden Kinder, eine typische Familie also, erleben eben dies - dass eine Lawine plötzlich sehr gefährlich aussieht.

Östlund: Ja, allerdings war mir anfangs noch nicht klar, dass nur der Vater davonlaufen würde. Erst allmählich begriff ich, dass sich daraus die emotional komplexeste Situation ergeben würde. Denn in meinen Filmen geht es ja nicht darum, dass jemand tatsächlich aus einer Lawine befreit werden muss - bei mir ist noch nie jemand gestorben -, sondern wie eine Familie damit umgeht, dass der Vater sich als Feigling erwiesen hat.

STANDARD: Er selber erweist sich als besonders unfähig, damit umzugehen.

Östlund: Das hat aber wiederum mit der Rolle zu tun, die die schwedische Gesellschaft ihm zuweist. Er führt eine Zweierbeziehung, die unter dem Anspruch der Gleichheit steht. Das führt zu einer permanenten Selbstbefragung: Sind wir gleich genug? Hast du genug Zeit für dein Leben, deine Arbeit? Das ist ein beständiger Kampf, den aus meiner Generation in Schweden alle verstehen. Für Männer bringt das mit sich, dass sie sich implizit immer ein wenig schuldig fühlen, denn die Gesellschaft ist ja nach wie vor von Ungleichheit geprägt. Das ist einer der Gründe, warum der Vorfall so stark nachwirkt.

STANDARD: Weil Tomas dem Idealbild nicht entsprochen hat, oder weil das Idealbild unerfüllbar ist?

Östlund: Eine egoistische Handlung ruft diese Reaktion hervor: Ich habe es immer gewusst, so seid ihr Männer, ihr denkt immer zuerst an euch selbst. Und Thomas muss fast zwangsweise sagen: Ich bin nicht so ein Mann. Er hat seine Identität als Mann verloren, deswegen kann er sich das nicht eingestehen. Ich hatte dabei immer den Kapitän der Costa Concordia im Kopf, der sagte, er wäre in das Rettungsboot gefallen. Das ist so eine dumme Lüge, aber sie ist verständlich, denn es ist ungeheuer schmerzhaft, sein Selbstbild zerstört zu sehen.

STANDARD: Der Ort, an dem sie gedreht haben, erweckt den Eindruck einer Laborsituation.

Östlund: Les Arcs war eines der ersten Resorts dieser Art: ein wirtschaftliches und gesellschaftliches Experiment. Erstmals konnte auch die Arbeiterklasse Ferien machen, aber sie kam in ein Ghetto. Es gibt hier einen Kampf zwischen Zivilisation und Naturkräften, man könnte sagen: Das, was sich in Tomas abspielt, sehen wir auch in der Natur des Skigebiets - einen Versuch, die Natur zu kontrollieren.

STANDARD: Die Innenräume verweisen auch auf Austauschbarkeit. Alles sieht aus, als wäre es von Ikea, und die Figuren sind im Bild eingesperrt und merken es gar nicht.

Östlund: Ich hatte sogar eine Szene, in der Thomas auf dem Balkon steht, und wir zoomen raus, und wir sehen einen anderen Mann auf einem anderen Balkon und eine Frau auf einem anderen, und sie sehen einander nicht.

STANDARD: Wenn sie einander sehen würden, müssten sie entweder vom Balkon springen oder eine Gruppe gründen. Interessanterweise schicken Sie auch das Paar zum Streiten immer nach draußen.

Östlund: In den Ferien muss man immer nach Orten zum Streiten suchen. Tomas und Ebba wollen das den Kindern nicht zumuten und streiten deswegen mit gesenkter Stimme. Es ist absurd, dass sie glauben, das wäre gut für die Kinder, aber ich kann den Impuls der Eltern gut verstehen.

STANDARD: Schon in "Play" haben Sie eine kontroverse Geschichte erzählt: über kriminelle Jugendliche mit Migrationshintergrund.

Östlund: Play wurde von tatsächlichen Ereignissen inspiriert. Jugendliche verstanden sich schon auf die Klischees, mit denen sie sich zu schützen versuchten. Sie sahen sich nicht als Delinquenten, weil sie ja Außenseiter waren.

STANDARD: Haben Sie schon einen weiteren Film im Kopf?

Östlund: Ja. Es geht um den Vertrauensverlust in der Gesellschaft. Als mein Vater ein Kind war, da hängte man ihm oft einfach einen Adresszettel um den Hals, und er ging in die Stadt zum Spielen. Der Film soll von einer Stadt handeln, die einen symbolischen Platz geschaffen hat, einen weißen Platz, auf dem humanistische Werte gelten. Wenn man sich auf diesen Platz begibt, wird man geschützt und es wird einem geholfen. Wie gehen wir aber damit um, wenn rumänische Bettler diesen Raum auch nützen? Sollen wir ihren Lebensstil aufrechterhalten, indem wir etwas geben? Oder sollen wir ihr Leben verändern?

STANDARD: Wie sieht für Sie eine mögliche künftige Gesellschaft aus? So ähnlich wie in Schweden?

Östlund: Wir werden so lange wie möglich an der Ameisenform festhalten. In Stockholm ist die Zahl der Single-Haushalte so hoch wie nie zuvor. Wir werden immer effizientere Konsumenten. Vielleicht müssen wir diese Ameisenlebensform töten, bevor wir an einen neuen Lebensstil denken können. (Bert Rebhandl, DER STANDARD, 21.1.2015)