Kaum ein Tag vergeht ohne pessimistische Analysen der Wirtschaftslage Russlands und düstere Aussichten infolge des unaufhaltsamen Falles des Ölpreises. In den ersten zwei Wochen fiel der Kurs des Rubels gegenüber dem US-Dollar um 17,5 Prozent. Angesichts einer Inflationsrate von 11,4 Prozent rechnen Wirtschaftsexperten zum ersten Mal seit dem Amtsantritt Wladimir Putins im Jahr 2000 mit einem Rückgang der Realverdienste. Die Wirtschaftssanktionen der EU und der USA als Antwort auf Putins Griff nach der Ukraine tragen zum erwarteten Rückgang des Bruttoinlandsproduktes um drei bis fünf Prozent bei.

Trotzdem bleibt die Machtposition Putins nach allen verfügbaren Anzeichen unangetastet. Laut Moskauer Meinungsforschern glauben 87 Prozent der Befragten, dass die USA die Ukraine-Krise ausnützen, um das aufstrebende Russland kleinzuhalten. Jedem zweiten Russen ist es heute wichtiger, dass sein Land eine Großmacht ist, als in Wohlstand zu leben.

Zugleich scheint der innenpolitisch nach wie vor ungefährdete Staatschef an der politischen Front, vor allem bei der Spaltung der EU in der Ukraine-Frage, bedeutende taktische Erfolge erzielt zu haben. Eine der für viele Beobachter verblüffenden Tendenzen ist die Kehrtwende mancher Staaten, die zur "größten geopolitischen Katastrophe des 20. Jahrhunderts" (Putin), nämlich zum Zerfall der Sowjetunion, beigetragen haben. Der einst als antikommunistischer und antisowjetischer Rebell berühmt gewordene Viktor Orbán, heute langjähriger Ministerpräsident Ungarns mit einer Zweidrittelparlamentsmehrheit, gilt seit einiger Zeit als der lautstärkste Verbündete Russlands in Mitteleuropa. Für ihn ist das Russland Putins (wie die Türkei und China) ein "Star", der sich um die "in Westeuropa akzeptierten Dogmen und Ideologien" nicht schert. Er hat die US-Außenpolitik, die Ungarn in einen "neuen Kalten Krieg mit Russland" verstricken könnte, ebenso scharf kritisiert wie die EU-Sanktionen, als einen Schuss, der nach hinten losgegangen sei. Auch führende Staatsmänner Tschechiens und der Slowakei missbilligen die Sanktionspolitik.

Während die baltischen Staaten und auch Polen eine harte Linie vertreten, wird die neue Hohe Repräsentantin der EU für Außenpolitik, die Italienerin Federica Mogherini, wegen ihrer viel zu konzessionsbereiten Haltung gegenüber Russland intern und von der einflussreichen amerikanischen Publizistin Anne Applebaum sogar öffentlich kritisiert. Die kremlfreundlichen Propagandafeldzüge in sozialen Medien und Kommentarforen deutschsprachiger Zeitungen und TV-Sender sowie die einschlägige Präsentation westlicher Prominenter, einschließlich früherer deutscher Kanzler, die sich positiv über Putin äußern, dienen dazu, einen Keil zwischen die Mitgliedstaaten der EU zu treiben.

Wichtig sind nicht zuletzt die taktischen Erfolge Putins in Serbien, dessen Regierung die Sanktionen nicht mitmacht und jetzt den Vorsitz bei den 57 Mitgliedstaaten der OSZE (Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa) führt, deren Experten bei der Überwachung der immer wieder verletzten Waffenruhe in der Ostukraine eine Schlüsselrolle spielen. (Paul Lendvai, DER STANDARD, 20.1.2015)