Vor kurzem starb ein Obdachloser im öffentlichen Lift. Vielleicht wäre er zu retten gewesen. Passanten stiegen ein und aus und machten: nichts. Das fanden einige verständlich. Die Palette reichte von "Selbst schuld", "Was geht es mich an?" bis "Die wollen nur ihre Ruhe". Schlafende Sandler solle man nicht wecken, man schade ihnen womöglich, weil die verständigte Exekutive oft nicht nett agiere.

Der Hinweis, dass Obdachlose unter sich lassen, was unzumutbar sei, ist obsolet: Das tun auch schwer Erkrankte. Zusammengefasst klingt alles verdächtig nach Ausrede. Man kann etwas tun: fragen. Zumindest den Notruf betätigen, im Winter gibt es für Gefährdete ein Kältetelefon.

Am Tag nach der Liftepisode erlitt ein Mädchen in der Apotheke einen leichten Kreislaufkollaps. Sie sah nicht aus wie eine Obdachlose. Der Effekt war dennoch der gleiche: Kunden ignorierten sie. Die Apothekerin, die sie nicht sehen konnte, wurde über die am Boden Liegende nicht informiert. Auf dem Videoband der Überwachung sei zu erkennen, wie Menschen die Liegende mustern und weitergehen.

Dieser Fall endete glimpflich. Das kann man nicht im Vorhinein wissen. Es ist nicht fürchterlich schwer, einen Menschen, der zusammengesackt ist, zu fragen, ob alles okay ist. Im schlimmsten Fall weckt man ihn auf. Im besten rettet man sein Leben. Über die Wertigkeit soll jeder selbst entscheiden. (Julya Rabinowich, DER STANDARD, 19.1.2015)