Bild nicht mehr verfügbar.

"Neue Türkei" in alten Klamotten: Staatschef Tayyip Erdogan empfängt Gäste jetzt in seinem Palast mit 16 Wachsoldaten, die frühere Herrscherreiche der Türken präsentieren sollen.

Foto: AP / Adem Altan

Ankara/Athen - Seit den Tagen Kemal Atatürks (1923-1938), des Gründers der türkischen Republik, hat es das nicht mehr gegeben, doch von Montag an weht ein neuer Wind: Staatspräsident Tayyip Erdogan wird erstmals selbst die Sitzung der Regierung leiten. Und Premier Ahmet Davutoglu ist nun auch für jedermann sichtbar nur mehr die Nummer zwei im Staat.

Der Verfassung nach ist die Türkei ein säkularer Staat mit parlamentarischem System: Der Regierungschef und das Parlament sind die zentralen Akteure. Doch seit Erdogan das Premiersamt nach elf Jahren aufgab und sich im August 2014 vom Volk zum Präsidenten wählen ließ, hat er sich schrittweise Attribute für seine Macht geholt: einen neuen Palast mit 1100 Zimmern, der ursprünglich für den Regierungschef gedacht war; eine neue Verwaltungsstruktur mit Präsidentenberatern, die die Arbeit jedes Ministers überwachen sollen; ein neues Budget, das knapp 100 Prozent über dem seines Amtsvorgängers und Parteifreunds Abdullah Gül liegt.

Die letzte Neuerung sind die 16 Gardesoldaten in historischen Uniformen, die fortan mit Ketten und Spießen bewehrt Wache halten, wenn Erdogan Staatsgäste in seinem Palast empfängt. Die Türken machten sich lustig über das Historienkabinett und brachten im Internet Fotomontagen mit Figuren aus Fantasiefilmen wie "Herr der Ringe" oder "Games of Thrones" in Umlauf; doch viele sind auch stolz auf die Referenz an die verschiedenen Herrscherreiche von den Hunnen über die Seldschuken zu den Osmanen, auf die sich die Türken berufen.

Republik als "Reklamepause"

Politisch ist diese Kulissenänderung bedeutsam: Ein starker Präsident führt die "neue Türkei" - die Formel, mit der Erdogan und seine konservativ-islamische Partei AKP zuletzt in die Wahlkämpfe zogen. Als "alte Türkei" gilt demnach die säkulare, zum Westen gewandte, europäisierte Türkei von Kemal Atatürk. Eine "Reklamepause" nannte die AKP-Parlamentsabgeordnete Tülay Babuscu nun gar die türkische Republik, die 1923 auf das Osmanische Reich gefolgt war, und löste mit ihrer Twitterbotschaft empörte Reaktionen der Opposition aus.

Mit der ersten Ministerratssitzung unter seiner Leitung will Staatschef Erdogan offensichtlich die politischen Agenden noch deutlicher an sich ziehen und Partei und Regierung auf Kurs zu den Parlamentswahlen im Juni bringen. Es werden für längere Zeit die letzten Wahlen in der Türkei sein. Bis 2019, wenn regulär wieder Kommunal-, Präsidenten- und Parlamentswahlen anstehen, hat die dominierende AKP dann keine Herausforderungen zu bestehen.

Verfassung nicht eindeutig

Erdogan will im Juni einen Wahlsieg erringen, der seiner Partei eine Zweidrittelmehrheit verschafft, mit der sie die Türkei offiziell zu einem Präsidentenstaat ummodeln kann. Ganz eindeutig ist die jetzige Verfassung nicht: Artikel 104 gibt dem Staatschef sehr wohl die Möglichkeit, "dem Ministerrat vorzusitzen oder den Ministerrat einzuberufen, wenn immer es ihm notwendig erscheint". Doch kein Präsident nach Atatürk hat davon Gebrauch gemacht.

Erdogans Verhältnis zu seinem Premier und früheren Außenminister Davutoglu gilt mittlerweile als nicht ganz friktionsfrei. Bei einem Treffen mit führenden AKP-Politikern soll sich der Präsident, der laut Verfassung eigentlich unparteiisch sein soll, über Davutoglu beklagt haben.

Klage gegen Oppositionsblatt

Begleitet wird Erdogans Machtdemonstration von der Debatte über die neue Mohammed-Karikatur des französischen Satiremagazins "Charlie Hebdo" und die Klage gegen "Cumhuriyet" ("Republik"), die nun wichtigste verbliebene Oppositionszeitung in der Türkei. Sie hatte - wie auch DER STANDARD - nach dem Terrorangriff des Islamistenpaars Kouachi über vier Seiten Karikaturen der jüngsten Ausgabe von Charlie Hebdo veröffentlicht; zwei Kolumnisten von "Cumhuriyet", die dazu noch über ihren Beitrag die Titelseite von "Charlie Hebdo" stellten, droht wie der Zeitung selbst ein Verfahren wegen Anstachelung zum Hass.

"Mein Leben ist nach den Äußerungen des Premiers und des Präsidenten in Gefahr", sagte Ceyda Karan, eine Kolumnistin, dem STANDARD. Sie fürchtet einen Anschlag von Islamisten. Erdogan und Davutoglu, der in Paris nach den Anschlägen am Marsch zur Meinungsfreiheit teilgenommen hatte, bezeichneten die jüngste Mohammed-Karikatur als Provokation, die bestraft werden müsse. (ANALYSE: Markus Bernath, DER STANDARD, 19.1.2015)