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Die britische Polizei hat nach den Anschlägen in Paris die Sicherheitsvorkehrungen für muslimische Einrichtungen erhöht. Hier patrouillieren Beamte vor der Londoner Moschee neben dem Regent's Park.

Foto: Reuters/MacGregor

25 Jahre nach dem religiös inspirierten Mordaufruf gegen den Schriftsteller Salman Rushdie, zehn Jahre nach dem Massaker in der Londoner U-Bahn und einem roten Doppeldeckerbus haben die britische Mehrheitsgesellschaft und ihre muslimische Minderheit viel gelernt. Die Medien scheuen nicht mehr reflexartig vor unangenehmen Auseinandersetzungen zurück: Diese Woche veröffentlichten manche Zeitungen in sachlicher Form die jüngste Titelseite der französischen Satirezeitschrift Charlie Hebdo, auf der ein weinender Prophet Mohammed um Vergebung für die blutigen Terrormorde von Paris bittet.

Der Muslimenrat MCB mahnte seine Glaubensgeschwister zur "Zurückhaltung" , schließlich sei auch der Prophet "sanft und barmherzig" gewesen. Freilich solle man sich auch nicht scheuen, befreundeten Nicht-Muslimen den eigenen "begründeten Missmut" über antireligiöse Scherze mitzuteilen.

Briten schätzen Anteil von Muslimen auf 20 Prozent

Die Zahl der Muslime in Großbritannien ist binnen zehn Jahren um knapp 70 Prozent in die Höhe geschnellt. Bei der letzten Volkszählung bekannten sich 2,78 Millionen Briten zum islamischen Glauben; das entspricht einem Anteil von fünf Prozent der Bevölkerung. Hingegen schätzen die Briten in Umfragen, jeder fünfte ihrer Mitbürger (20 Prozent) sei Muslim. Das rapide Wachstum sowie Medienberichte über mangelnde Integration mögen zu dieser Fehleinschätzung beitragen.

Hinzu kommt die Konzentration vieler Minderheiten in wenigen großen Städten, zuvorderst in der Hauptstadt London. Aber auch in anderen Großstädten gehört mittlerweile bis zur Hälfte der Bevölkerung ethnischen und religiösen Minderheiten an.

Nicht umsonst hat die öffentlich-rechtliche BBC ihre erfolgreiche Komödie "Citizen Khan" in Englands zweitgrößter Metropole Birmingham angesiedelt. Der fiktive "Bürger Khan" ist ein großherziger, großmäuliger Einwanderer aus Pakistan, der sich im (echten) Stadtteil Sparkhill als "Anführer der Gemeinschaft" aufspielt und damit seine fromme Frau ebenso zur Verzweiflung treibt wie seine säkularen Töchter.

Eigene Schlichtungsstellen

Mit dem Spagat zwischen den Geboten des Islam und der durch und durch säkularen Heimat England kommen viele britische Muslime gut zurecht. Die kleine Minderheit der Strenggläubigen kann schon seit 1982 religiöse Schlichtungsstellen anrufen. Einer Schätzung des Thinktanks Civitas von 2009 zufolge gibt es mittlerweile 85 solcher Einrichtungen, die teils nur einige Dutzend, teils bis zu 600 Fälle pro Jahr behandeln. Dabei geht es um Familienprobleme ebenso wie um Erb- oder Eigentumsstreitereien, grundsätzlich aber nicht um Strafdelikte. Zudem gilt natürlich weiterhin das Primat des britischen Zivilrechts über der Scharia.

Die zunehmende Radikalisierung religiöser Fundamentalisten hat zu größerer Aufmerksamkeit für die Anliegen der riesigen Mehrheit friedfertiger Muslime beigetragen. So geben nach MCB-Angaben 13.400 Geschäftsinhaber allein in London 70.000 Menschen Lohn und Brot. 10.000 Muslime wurden zu Millionären. Im Unterhaus sitzen acht Muslime, zwölf ihrer Glaubensgeschwister auf den Bänken des Oberhauses.

Kulturminister ist der Konservative Sajid Javid, Sohn eines eingewanderten Busfahrers aus Pakistan. Öffentliche Behörden und Schulen bemühen sich offensiv um Minderheiten. "Die können mich gar nicht feuern", sagt ein Londoner Physiklehrer scherzhaft, "bloß weil ich brauner Hautfarbe bin."

Ghettos in Industriestädten

Freilich gibt es mancherorts auch ghettoähnliche Strukturen. Gerade in den heruntergekommenen früheren Industriestädten Nordenglands wie Oldham und Bradford leben die weiße Mehrheit sowie Einwanderergruppen vielerorts ohne Berührungspunkte nebeneinander. Und auch in äußerlich bestens integrierten Familien kommt es zu plötzlicher, für die Umwelt nicht wahrnehmbarer Radikalisierung. So verschwanden im Herbst 2013 zwei Freunde aus der walisischen Hauptstadt Cardiff, um für die IS-Terrormiliz zu kämpfen.

Dem Leiter des Inlandgeheimdienstes MI5 zufolge sind mittlerweile rund 600 britische Muslime als Bürgerkriegskämpfer in Syrien gewesen. Etwa die Hälfte sei zurückgekehrt, vermutet Andrew Parker. Rund 30 gelten als so gefährlich, dass die Behörden sie permanent überwachen. (Sebastian Borger aus London, DER STANDARD, 19.1.2015)