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Erste Reihe, von links nach rechts, Auswahl: David Cameron (Großbritannien), Helle Thorning-Schmidt (Dänemark), Ewa Kopacz (Polen), Federica Mogherini (EU-Außenbeauftragte), Thorbjörn Jagland (Europarat), Anne Hidalgo (Bürgermeisterin von Paris), Jean-Claude Juncker (EU-Kommissionspräsident), Benjamin Netanjahu (Israel), Ibrahim Boubacar Keita (Mali), François Hollande (Frankreich), Angela Merkel (Deutschland), Donald Tusk (EU-Ratspräsident), Mahmoud Abbas (Palästinenserpräsident), Simonetta Sommaruga (Schweiz), Ahmet Davutoglu (Türkei), Petro Poroschenko (Ukraine). Zwischen Jagland und Juncker verbirgt sich etwa in Reihe 7 Österreichs Nationalspräsidentin Doris Bures.

Foto: EPA/JULIEN WARNAND

Als der Zähler bei 1,5 Millionen Menschen angelangt war, gaben die Agenten des französischen Innenministeriums das Rechnen auf. Offiziellen Angaben zufolge haben mehr als 3,7 Millionen Menschen in ganz Frankreich an den Demonstrationen teilgenommen. Ein Menschenmeer wogte von der Place de la République zur Place de la Nation, und das über drei verschiedene Strecken, weil die breiten Boulevards für einen einzigen Umzug zu eng waren. Vornweg gingen Angehörige der 17 Terroropfer, das heißt der ermordeten Mitarbeiter der Satirezeitschrift "Charlie Hebdo", der erschossenen Geiseln eines jüdischen Supermarktes sowie der dienstleistenden Polizisten. "Je suis Charlie", hieß es überall, aber auch "Je suis policier" oder "Je suis juif" – ich bin Charlie, ich bin Polizist, ich bin Jude.

Fast noch eindrücklicher waren, gemessen an der Bevölkerungszahl, die Umzüge in der französischen Provinz: In Lyon gingen etwa 300.000 Menschen auf die Straße – was die bedächtige Rhône-Stadt überhaupt noch nie erlebt hatte. Aber auch in der bretonischen Hauptstadt Rennes zählte die Polizei 115.000 Kundgebungsteilnehmer.

Emotional und kämpferisch

Alles in allem war es eine imposante und sehr emotionale Demonstration der "unité nationale", der nationalen Einheit, die Premierminister Manuel Valls beschwor. Man spürte die Bestürzung und Betroffenheit der Bürger. Selbst Schulkinder nahmen den allgemeinen Slogan "Je suis Charlie" auf oder sangen die Marseillaise. Eine 26-jährige Frankoalgerierin namens Dalia demonstrierte im islamischen Kopftuch und meinte: "Der Terrorismus hat keine Verbindung mit dem Islam. Meine Religion ist gegen den Terror. Es lebe Frankreich, es lebe die Republik." Viele Leute hatten Tränen, andere trugen Kerzen oder persönliche Transparente mit trotzigen Aufschriften wie etwa: "Même pas peur des terroristes" – schon gar nicht Angst vor Terroristen.

Paris als "Hauptstadt der Welt"

Das Ausmaß der Solidaritätsbekundungen ging aber auch über die Landesgrenzen hinaus. In anderen europäischen Städten wie London fanden kleinere Treffen und Demos in den rot-weiß-blauen Farben Frankreichs statt. Im Überschwang der Gefühle, die viele Umzüge in Frankreich prägten, erklärte Präsident François Hollande gar Paris zur "Hauptstadt der Welt".

Mit dem 60-jährigen Sozialisten ging erstmals seit 1990 – damals François Mitterrand gegen eine antisemitische Friedhofsschändung – wieder ein französischer Staatschef auf die Straße. Hollande führte den Umzug zusammen mit der deutschen Kanzlerin Angela Merkel an. Arm in Arm gingen an ihrer Seite europäische Spitzenpolitiker wie Jean-Claude Juncker und Donald Tusk (EU), Matteo Renzi aus Italien oder Mariano Rajoy aus Spanien. Mit von der Partie waren auch der ukrainische Präsident Petro Poroschenko und der russische Außenminister Sergeij Lawrow, ebenso der israelische Ministerpräsident Benjamin Netanjahu und der Palästinenserchef Mahmud Abbas.

Ambivalenz der Diplomatie

Bissige Kommentare provozierte die Anwesenheit des ungarischen Premiers Viktor Orbán, der nicht als vehementester Verfechter der Meinungspluralität gilt. "Die Wirtschaftsmigration ist eine schlechte Sache für Europa", bringe nur Probleme und müsse gestoppt werden, soll er unter anderem am Rande der Veranstaltung gesagt haben.

Unter den acht afrikanischen Staatschefs war aber auch Ali Bongo, der Präsident Gabuns, der missliebige Journalisten ohne Prozess einkerkert. Einer von ihnen, Désiré Enamé, war erst Mitte Dezember von Gabun nach Paris geflüchtet und nahm wie Bongo an der "manif" ("manifestation", auf Deutsch Demonstration) teil. Das zeigte nicht nur die Ambivalenz der französischen Diplomatie, sondern auch der Umzüge, an denen französische Politiker jeder Couleur teilnahmen.

Nur die Rechtsextremistin Marine Le Pen war in Paris Persona non grata, sie demonstrierte im Camargue-Ort Beaucaire, der sich 2014 einen Bürgermeister des Front National gegeben hatte.

Gedenkveranstaltung vom Samstag in Nantes.
storyful/moescortv

Vor dem Pariser Trauer- und Solidaritätsmarsch hatte Hollande Vertreter des jüdischen Dachrates Crif im Élysée empfangen. Deren Vorsteher Roger Cukierman erklärte nach den anhaltenden Anschlägen auf französische Juden, der Westen sei in einer "Situation des Krieges". Gleichzeitig versammelte der französische Innenminister Bernard Cazeneuve seine EU- und US-Kollegen zu Gesprächen über die internationale Terrorbekämpfung.

Bekennervideo

Am Sonntag zirkulierte auch ein Internetvideo eines der getöteten Attentäter, Ahmedy Coulibaly, der sich zur Terrormiliz "Islamischer Staat" (IS) bekannte. Aus der irakischen Stadt Mossul erfolgte das Echo: "Morgen werden es England und die USA und andere sein", drohte der IS-Prediger Abu Saas al-Ansari in Bezug auf die Pariser Anschläge.

Wie eng genau die Bande der Kouachi-Brüder und Coulibalys mit IS und Al-Kaida waren, müssen die Ermittlungen zeigen. Eine Großfahndung nach Coulibalys 26-jähriger Frau Hayat Boumeddiene hat bisher nichts ergeben – sie soll nach jüngsten Erkenntnissen am 2. Jänner nach Syrien gereist sein. (Stefan Brändle, DER STANDARD, 12.1.2015)