Wie jeden Morgen ist der Zug der Metrolinie 13 zum Bersten voll. Erst als er den Nordrand von Paris erreicht, werden Sitzplätze frei. Im Wagen bleiben vor allem verschleierte Frauen und maghrebinische Männer. Gennevilliers ist nicht weit von Paris, aber tiefste Banlieue; mit Wohnsiedlungen so fantasielos, wie sie nicht einmal einem DDR-Planer in den Sinn gekommen wären. Dazu ein Schuh-Discounter mit 30 bis 50 Prozent Rabatt, eine Tankstelle und irgendwo ein McDonald's: Nasse Windböen wehen Hamburgerschachteln und Becher über die Rue de Louis Calmel.

An Ende eine christliche Oase: Notre-Dame des Agnettes, ein Betonbau und keine eigentliche Kirche, hinter einem schweren Gitter noch eine Weihnachtskrippe mit Kartonfiguren und einer billigen Kinderpuppe in der Wiege.

Die andere Oase in dem tristen Dekor ist das Bistro mit dem Namen L'Esprit d'Equipe. "Teamgeist" herrscht im Inneren insofern, als alle auf das Fernsehgerät starren. Dort spricht gerade Premier Manuel Valls, aber die Gäste fangen nur Redebrocken wie "Zusammenhalten" und "ungestraft" auf. Eine neue Ansprache zu Charlie Hebdo? "Nein, der neueste Anschlag in Montrouge", klärt ein Franzose mit der Weste eines städtischen Angestellten auf. Montrouge im Süden von Paris? "Haben Sie nicht gehört? Dort wurde heute Morgen eine weitere Polizistin erschossen", erklärt der Mann. "Es ist wie im Krieg."

Im Café herrscht noch Frieden. Der Freund des Mannes, ein dunkelhäutiger Mann mit Bart und roter Weste, ereifert sich immerhin: "Wenn man ständig von den Islamisten redet, muss ja einmal so was Tragisches passieren." Der Wortführer unterbricht ihn: "Hast du gesehen, wie eiskalt und gelassen die gestern den Flic (den Polizisten, Anm.) umgelegt haben? Als wären sie in einem Videospiel." Der Bartträger will aber auf etwas anderes hinaus: "Aber mit Islam hat das nichts zu tun. Der Islam verbietet es zu töten, Gläubige wie Ungläubige." Man merkt: Dem klein gewachsenen agilen Mann gehen die Anschläge nahe.

"Längst über alle Berge"

Draußen zerrt der Wind an einem Plakat für einen TV-Sender, der auch in Arabisch sendet; im Windschatten wartet eine junge Maghrebinerin auf den Bus ins Geschäftsquartier La Défense. Sie blickt kaum auf, als die Polizei mit Sirene vorbeirast. Ob sie in Richtung der – am Vortag durchsuchten – Wohnung des einen Attentäters unterwegs ist, weiß sie nicht. Oder will sie nicht wissen.

Eine weitere Polizeistreife fährt vorbei. "Die sind doch längst über alle Berge", sinniert eine ältere Dame afrikanischer Herkunft auf der Bank des Bushäuschens. Gefragt, ob sie die Terroristen vom Vortag meine, antwortet sie aber nur mit einem misstrauischen Blick. Zum Glück kommen nun die Straßenkehrer vorbei.

Der Bartträger beendet gerade ein Handygespräch und ist in Sprechlaune. Er erzählt von einem jungen Nachbarn. Der habe sich jüngst plötzlich einen langen Bart wachsen lassen und marokkanische Kleidung angelegt. "Das halbe Viertel hat sich gefragt, was diesen plötzlichen Wandel bewirkte. Über die Feiertage zeigte er sich aber plötzlich wieder in normalen Hosen und frisch rasiert", erzählt der städtische Angestellte.

Manchmal hätten die Salafisten Erfolg, klagt er. Dann verschwinde ein Jugendlicher ganz plötzlich. "Jetzt sind sie auch verschwunden: wegen der Polizei", ergänzt er. "Dort steht sonst einer Wache für die Drogenhändler in den Wohnungen." Aus der gegenüberliegenden Wohnblocksiedlung seien schon einige Burschen auf die schiefe Bahn geraten; im Gefängnis gerieten sie mit Salafisten in Kontakt, wie wohl auch die Kouachi-Brüder. Die habe hier niemand gekannt, meint er. "Wir leiden am meisten unter Jihadisten. Ob sie in den Krieg ziehen oder zu Killern werden: Die haben keine Angst zu sterben. Das hat nichts mit Religion zu tun."

Auch die Mohammed-Zeichnungen seien nicht frei von Gewalt: "Das verletzt unsere Gefühle sehr. Auch wenn es den schrecklichen Charlie-Hebdo-Anschlag natürlich nicht rechtfertigt." (Stefan Brändle aus Paris, DER STANDARD, 9.1.2015)