In den Höhenlagen der Serra de Tramuntana auf Mallorca wurde eine neue Ameisenart entdeckt, die nur hier lebt. Die Zukunft der Tiere scheint aber durch den Klimawandel bedroht zu sein.

Foto: Gerard Talavera
Foto: Gerard Talavera

Wien - Auf dem Puig Galatzó soll Seltsames vorgehen. Der 1026 Meter hohe Berg im Südwesten der mallorquinischen Serra de Tramuntana steht schon seit Jahrhunderten im Mittelpunkt von Mythen und Märchen. Es heißt, dort oben tummelten sich allerlei Fabelwesen, wild und stets zu Streichen aufgelegt. Oft ist der Gipfel in Wolken gehüllt - so, als gelte es, vor dem Tageslicht etwas zu verbergen. Die meisten der geheimnisvollen Bergbewohner sind nur Produkte überbordender Fantasie. Doch der Galatzó beherbergt auch reale Geschöpfe, deren Existenz bislang noch niemand vermutete. Sie haben sechs Beine, sind etwa zwei Millimeter groß, gelbbraun gefärbt und außergewöhnlich stark behaart. Ihre Nester bauen sie unterirdisch, gut versteckt unter Steinen oder Felsblöcken. Wer sie finden will, muss genau wissen, wonach er sucht.

Eine kleine Sensation

Gemeint ist Lasius balearicus, eine neu beschriebene Ameisenart, die offensichtlich nur in Höhenlagen der Serra de Tramuntana vorkommt. Die Entdeckung einer bisher unbekannten Insektenspezies auf Mallorca gilt unter Experten als eine kleine Sensation. Die Insel ist schließlich bestens erforscht, erklärt der Biologe Gerard Talavera von der CSIC Universitat Pompeu Fabra in Barcelona. Insgesamt gebe es auf Mallorca rund 30 verschiedene Ameisenarten. "Viele davon wurden eingeschleppt." Lasius balearicus dagegen ist die erste bekannte endemische Spezies - zu 100 Prozent mallorquinisch und ausschließlich dort beheimatet.

Talavera und ein paar seiner Kollegen haben die Krabbler bei der Feldarbeit gefunden. "Per Zufall", berichtet der Wissenschaftler. "Eigentlich suchten wir nach Schmetterlingen." Sie waren allerdings nicht die Ersten, die Lasius balearicus zu Gesicht bekamen.

1982 hatte der Forscher Cedric Collingwood auf dem Puig d'es Teix in der Nähe von Valldemossa eine einzelne, ungewöhnlich helle Ameise eingesammelt.

Ein Nest war nirgendwo auszumachen. Der Brite konnte das Tier nicht einordnen und zeigte es einigen anderen Fachleuten. Auch diese wussten nicht weiter. Der Fund geriet in Vergessenheit, aber nicht gänzlich.

Viele Jahre später: Nach seiner Rückkehr nach Barcelona legt Gerard Talavera die von ihm mitgebrachten Exemplare dem renommierten Ameisenexperten Xavier Espadaler vor. Dieser reißt überrascht die Augen auf und will wissen, woher die Tierchen stammen. Espadaler hat sie wiedererkannt. Offensichtlich gehören sie zur selben Art wie der von Collingwood gefundene Winzling. Man beschließt, der Sache auf den Grund zu gehen, und die Biologen starten eine systematische Suche.

Auf den acht wichtigsten Bergen der Serra de Tramuntana klopfen sie tagelang die Karstlandschaft ab und werden tatsächlich fündig. Die gelbbraunen Ameisen krabbeln in Felsspalten herum, oder sie sitzen auf Pflanzen und "melken" dort Blattläuse. Insgesamt spürt das Team neun Teilpopulationen der Tierchen auf, mit jeweils bis zu sechs Nestern. Anderen Höhenlagen im Zentrum und im Osten Mallorcas sowie auf den Nachbarinseln Menorca und Eivissa statten die Forscher ebenfalls ausgedehnte Besuche ab. Auch dort gibt es reichlich Ameisen, aber nicht die Gesuchten.

Spanische Abstammung

Langsam setzt sich ein Bild zusammen. Lasius balearicus kommt demnach nur in offenem Gelände oberhalb von 800 Metern Meereshöhe vor. Wald scheinen die Tierchen zu meiden. Stattdessen fühlen sie sich in kargen, spärlich bewachsenen Gipfelregionen wie auf dem Puig Major oder eben auch auf dem Galatzó wohl.

Die neue Ameisenart lässt sich nicht nur aufgrund äußerlicher Merkmale deutlich von anderen Spezies der Gattung Lasius unterscheiden. Ihre Entdecker haben auch das Erbgut analysiert und verglichen. Den Ergebnissen dieser Untersuchungen zufolge fand die Trennung zwischen Lasius balearicus und ihren nächsten Verwandten vor rund anderthalb Millionen Jahren statt. Mallorca war damals schon eine Insel. "Die Vorfahren kamen wahrscheinlich vom spanischen Festland", sagt Gerard Talavera. Womöglich hat Treibholz sie herübergetragen.

Die Genomvergleiche zwischen Arbeiterinnen aus unterschiedlichen Lasius-balearicus-Teilpopulationen zeigen erstaunlich wenig Variabilität. Dies, meint Talavera, könnte eine Folge von besonderer Langlebigkeit der Königinnen sein. Sie sind die Einzigen, die Eier legen. Eine ganze Kolonie stammt nur von einem einzigen solchen weiblichen Tier ab. Talavera und seine Kollegen schätzen, dass einzelne Nester von Lasius balearicus gut zehn Jahre alt werden können. Anhand der vorliegenden Daten zur Besiedelungsdichte lässt sich die Größe der Gesamtpopulation ungefähr ermitteln. Sie dürfte bei weniger als 2500 Königinnen liegen, glauben die Forscher. Ein detaillierter Studienbericht wurde kürzlich vom Fachmagazin "Journal of Biogeography" online veröffentlicht.

Bedrohung Klimawandel

Die Zukunft scheint für die seltenen Ameisen nicht gerade rosig auszusehen. Ihre Refugien auf den Gipfeln sind bedroht. Der Klimawandel treibt die Temperaturen in die Höhe. Schon bald könnte es Lasius balearicus schlichtweg zu heiß werden. In tieferen, wärmeren Lagen kann die Art offenbar nicht überleben, und nach oben ausweichen geht nicht. Mallorcas höchster Berg, der Puig Major, ragt nur 1445 Meter über dem Meeresspiegel empor. Die Tierchen sitzen praktisch in der Falle.

Die Wissenschafter haben auch Modellrechnungen zur Größe des für Lasius balearicus geeigneten Lebensraums durchgeführt. Zurzeit stehen den Kolonien insgesamt noch etwa 100 Quadratkilometer zur Verfügung - theoretisch zumindest. Bis 2050 jedoch könnte diese Fläche um circa 90 Prozent schrumpfen. 2080 wäre nichts mehr übrig und Mallorcas einzige endemische Ameisenart somit Geschichte. Vielleicht gelingt es den Winzlingen, sich anzupassen, meint Gerard Talavera. Durch Umstellung auf nachtaktives Verhalten zum Beispiel. "Aber das ist nicht sehr wahrscheinlich." (Kurt de Swaaf, DER STANDARD, 7.1.2015)