Schweizer, die in Österreich publizieren: Lorenz Langeneggers (li.) "Bei 30 Grad im Schatten" führt nach Griechenland, Andreas Neesers "Zwischen zwei Wassern" in die Bretagne.


Fotos: H. Corn, A. Yavas

Wien - "Man passt dahin, wohin man sich sehnt", heißt es in Robert Walsers Roman über die Geschwister Tanner. Sehnsuchtsspezialisten gibt es viele, nicht nur bei Walser und in der Schweiz, doch es ist auffällig, wie hartnäckig sich das Thema des Weggehens (und oft des Gescheitert-wieder-Zurückkommens) durch die Literatur des Landes mit dem Franken, den Banken und den langsamen Abfahrern zieht. Frischs Stiller ist ein Beispiel dafür, Kellers Grüner Heinrich oder Claire Zachanassian in Dürrenmatts Besuch der alten Dame.

Dass diese Motive fruchtbar geblieben und vielfältig variierbar sind, zeigen eindrücklich die neuen Romane der beiden Schweizer Autoren Andreas Neeser (50) und Lorenz Langenegger (34), die beide in österreichischen Verlagen publizieren. In Neesers Roman Zwischen zwei Wassern (Haymon) sitzt ein Mann in der Bretagne auf einer Klippe. Vor sich hat er den Abgrund und das Meer. Hinter ihm liegt das Festland, ein verlorenes Jahr und das, was war. Der namenlos bleibende Ich-Erzähler des Romans hat nicht nur geografisch einen Punkt erreicht, an dem Ende und Anfang in eins fallen. Finistère nennen die Franzosen diese Gegend, bretonisch heißt der Landstrich Penn ar Bed, Anfang also, oder Haupt der Welt.

Neesers Erzähler, ein Schweizer Geografielehrer, ist hier, wo die Welt ins Meer stürzt, an das Ende seiner Kraft gelangt. Er war früher schon einmal an diesem Ort und hofft, durch seine Rückkehr Klarheit wiederzuerlangen. "Hier beginnt der Anfang. Hier geht alles weiter", beschwört er einen Neubeginn, für den er sich fünf Ferienwochen lang Zeit gibt. Vor einem Jahr noch war er mit seiner Freundin Véro hier. Diese ist weg. Unwiederbringlich. Sie ist das Du, an das sich der Erzähler immer wieder wendet, und zwar anhand von Ferienfotos, die er ein letztes Mal betrachtet, bevor er sie zerreißt und in den Abgrund wirft.

In 36 kurzen, jeweils wenige Seiten umfassenden Episoden - für jeden Tag der fünf Ferienwochen eine plus eine zusätzliche Episode, die den Neuanfang andeutet - wird geschildert, was passiert ist und warum. Am Ende dieses Romans über Zufall, das Meer, Verlust, Liebe, Schuldgefühle und unterlassene Trauer wird der Erzähler das Geschehene zwar nicht bewältigt, aber immerhin die verfilzten Erinnerungsfäden geordnet haben. Das Thema der inneren Bilder, die einen nicht loslassen, spiegelt Neeser an einer Komplementärfigur zum Erzähler: Max.

15 Jahre ist es her, dass dieser Freund des Erzählers, ein Bildhauer und Naturbursche, in die Bretagne auswanderte, um seinen Traum vom Künstlertum zu verwirklichen. Erfolglos, doch getreu seinem Motto "Maximale Reduktion. Maximale Freiheit" macht er weiter - scheinbar wider jede Vernunft. Und doch hält dieser Arbeiter am Stein nicht nur die Kunst betreffend eine wichtige Lektion bereit: dass es Hoffnung auf Veränderung gibt, von der auch Ovids Metamorphosen sprechen. Nichts "ist" in Max' und Ovids Welt, alles "wird" immer nur.

Es ist ein hoher, dem Thema angemessener, fein austarierter Ton - schließlich geht es um (Über-) Leben und Tod -, den Neeser, der immer wieder auf die Pathosbremse tritt, in seinem intensiv brodelnden Roman anschlägt. Zurückgenommener und nur scheinbar weniger existenziell geht es im neuen Roman des in Wien lebenden Lorenz Langenegger zu. Leser von Hier im Regen (2009) kennen Jakob Walter schon, er ist auch der Held von Langeneggers zweitem Roman Bei 30 Grad im Schatten (Jung und Jung).

Ausbruch als Ankunft

Versuchte dieser Walter schon in Hier im Regen eine kleine Flucht aus Bern, wo er im Steueramt arbeitet, ins Tessin, um schließlich wieder in das bürgerliche Leben, die Gewohnheit und seine Ehe zurückzukehren, zwingt ihn seine Frau Edith nun - fünf Jahre trennen die Handlung der beiden Romane - zu radikaleren Schritten. Denn sie hat ihn verlassen, zehn Jahre sind die beiden nun verheiratet, doch als sie nach einer der sich häufenden Zänkereien über Kleinigkeiten nicht mehr zurückkehrt, weiß der 35-jährige Walter: "Dieses Mal war das letzte Mal."

Ohne sich bei der Arbeit abzumelden, macht er sich - seine Hausschlüssel hat er in den Postkasten geworfen - auf einen verschlungenen Weg, der ihn von Zürich über Italien schließlich bis zum Kap Ténaro führt. Hier am südlichsten Punkt Griechenlands, wo sich der Eingang zum Hades befinden soll, wird Walter merken, dass ein Ausbruch nicht nur aus einer Reise besteht, sondern auch aus einer wie immer gearteten Ankunft. Doch wo? Eine Frage, die ihm auch einige Reisebegegnungen, etwa der einsame Jonas, die junge Natalia oder der alte Engländer William, nicht beantworten werden.

Es wird in diesem in der Er-Form, oft im Präsens erzählten Roman viel Alltags- und Beziehungsstaub aufgewirbelt. Unnötige Gespräche werden geführt, notwendige bleiben aus, Unsicherheiten werden voreinander verborgen, dafür die Ich-Marke gepflegt und die Leere durch Schritte auf der Karriereleiter und Wohnungserneuerung übertüncht.

Doch Vorsicht: Oberflächliche Befindlichkeitsprosa über Beziehungslosigkeiten und zu viele Lebensmöglichkeitsräume ist das keine. Dazu ist Langenegger stilistisch zu präzis und in seiner Gesellschaftsanalyse zu differenziert. Einfache Antworten oder Lektionen hält der Autor, der über ein feines Gespür für Nuancen und Gesten verfügt, für seine Figur, die eigentlich mit dem zufrieden ist, was sie hat(te), nicht bereit. Dafür wird im Verlauf der Lektüre immer stärker ein im Untergrund schwelender Phantomschmerz spürbar - und ein tief greifendes Gefühl der Nichtdazugehörigkeit.

"Windfiguren" hat der Schriftsteller Gerhard Meier die hinfälligen, vom Leben herumgetriebenen literarischen Geschöpfe Robert Walsers einmal genannt. Eine Zuschreibung, die Lukas Walter wahrscheinlich gefallen würde. (Stefan Gmünder, DER STANDARD, 3./4.1.2015)