Willkommen zur ersten Krisenkolumne anno 2015. Eines der großen Buchmarkträtsel der jüngeren Zeit hat der Krisenkolumnist bis heute weder verstanden noch verdaut: dass nämlich 2014 just ein Opus über den Darm klar Platz eins der deutschen Sachbuch-Bestsellerliste erobert hat.

Mehr als eine Million Darm mit Charme-Bücher hat die - gewiss sehr hübsche, junge und patente - Medizinstudentin Giulia Enders inzwischen verkauft, monatelang war sie Dauergästin in allen deutschen Talkshows, wo sie charmant und, ohne mit der Wimper zu zucken, ausführlich vom Pupsen und Kacken erzählte. Hinreißend! Nur: Muss man deshalb ihr Buch lesen?

Ich persönlich bin praktisch mein ganzes Leben lang auf gutem Fuß mit meinem Darm gestanden, und solange er weiter die Dienste verrichtet, die ich von ihm erwarte, sehe ich keinen Nutzen darin, mich über seine Zotten, Bakterien und Peristal- tik zu informieren. Ich halte es vielmehr mit dem Motto von Dr. Ostbahn: "I wüs garned wissn".

Somit pflege ich also ein quasi naturwüchsig-naives, von keinen Spezialkenntnissen belastetes Verhältnis zu meinem Verdauungsorgan. Dies aus gutem Grund! Ich glaube, dass es mir mein Darm übelnähme, wenn ich mich hinter seinem Rücken über die Details seiner Arbeit informierte, grad so, als würde ich ihm nicht zutrauen, dass er seinen Job gewissenhaft erledigt.

Was aber motiviert mehr als eine Million deutsche Leser dazu, sich in den Darm zu vertiefen? Hat es etwa gar mit einem deutschen Hang zur Analität zu tun, den der US-Kulturwissenschafter Alan Dundes 1985 in seinem Buch Sie mich auch! beschrieb, nachdem er bei seinen Feldforschungen in Germany auf Nachttöpfe mit eingebauten Spieluhren, präsentiertellerartig gestaltete Klomuscheln, Mozarts Bäsle-Briefe und jede Menge Fäkalpoesie gestoßen war ("Scheiße in der Lampenschale")? Sind nicht auch Charlotte Roches pedantische Analexplorationen zu riesigen Buch- und Filmerfolgen geworden? Haben es die Deutschen (und vielleicht auch die Österreicher), anders als Franzosen und Italiener, lieber, wenn junge Frauen nicht von der Liebe, sondern vom Kacken reden?

Wie auch immer: Der Krisenkolumnist hat jedenfalls zu Jahresanfang den Vorsatz gefasst, Darm mit Charme auch heuer nicht zu lesen. Sehr uncharmant, aber wenigstens ein Vorsatz, der nicht schwerfällt. (Christoph Winder, Album, DER STANDARD, 3./4.1.2015)