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Die Mitglieder der Miliz "Schura-Rat der Islamischen Jugend" (IYSC) der ostlibyschen Stadt Derna paradieren die Fahne des "Islamischen Staats".

Foto: Reuters

Wien – Der "Islamische Staat" (IS) – der am Dienstag ein "Interview" mit dem gefangenen jordanischen Piloten veröffentlicht hat – reagiert auf den militärischen Druck der Anti-IS-Koalition im Irak offenbar mit Paranoia gegen "Fremde" in seinen Reihen: Wenn die Berichte stimmen, dann gab es in letzter Zeit vermehrt Hinrichtungen von ausländischen Kämpfern, deren Loyalität angezweifelt wird. Die Hoffnung besteht, dass das früher oder später den Strom der Kämpfer, die aus der ganzen Welt kommen, verlangsamt. Für andere jihadistische Gruppen in der Region bleibt die IS-Miliz aber weiter ein Vorbild.

Zuletzt häuften sich die Nachrichten von Gefolgschaftsschwüren einzelner Gruppen an den "Kalifen Ibrahim", Abu Bakr al-Baghdadi: in Libyen, Ägypten, aber auch Pakistan und Dagestan. Andere Gruppen bekennen sich zu Operationsgemeinschaften mit der IS: Eine davon, die syrischen Yarmuk-Märtyrer-Brigaden, hält einen Teil der syrisch-israelischen Grenze, meldet Debkafile.

Bestürzend ist, dass die Miliz zu den von der USA als förderungswürdig eingestuften Rebellengruppen gehörte. Monate nachdem dieses Unterstützungs programm für "moderate" Anti -Assad-Kräfte beschlossen wurde, gibt es keinen Hinweis darauf, dass es funktioniert. Die Rebellen sind fraktioniert wie eh und je, militärisch erfolgreich sind nur die Jihadisten, die immer öfter über das den Moderaten gelieferte Kriegsmaterial verfügen. Das betrifft besonders die Nusra-Front. Sie steht zwar in Konkurrenz zur IS, aber das schließt eine punktuelle Kooperation nicht aus.

Leichte Beute Libyen

Es bestehen auch Befürchtungen, dass in Libyen – in dem die rechtmäßige Regierung nicht einmal mehr die Hauptstadt Tripolis kontrolliert, sondern nach Tobruk flüchten musste – ein weiteres IS-"Staatsgebiet" entstehen könnte. Ein Machtvakuum wie das libysche sieht tatsächlich wie ein gefundenes Fressen für die IS aus. Allerdings relativieren Experten wie Frederic Wehrey von Carnegie Endowment for Peace in Washington die Meldungen: Das Bild sei noch nicht klar. Der Befehlshaber des U.S. Africa Command, General David Rodriguez, sagte vor kurzem bei einem Briefing, dass das Phänomen "sehr klein und erst im Entstehen" sei.

Es stimmt, dass eine Miliz in der ostlibyschen Stadt Derna, die immer schon ein islamistischer Hotspot war, Al-Baghdadi Anfang Oktober die Treue geschworen hat und dass dieser den Eid einen Monat später offiziell annahm. Der "Schura-Rat der Islamischen Jugend" (IYSC), wie die Gruppe heißt, hat auch versucht, die islamische Scharia im IS-Stil in Derna durchzusetzen, es wurden Gerichtshöfe errichtet und die schwarze Fahne aufgezogen.

Berichte über Trainingscamps

Aber eine andere Gruppe in Derna identifiziert sich nicht mit dem "Islamischen Staat" und hat den Kampf gegen die IYSC ausgerufen. Noch wichtiger ist, dass sich die mächtigste libysche Gruppe, die Ansar al-Sharia, die Bengasi, Sirte und andere Städte dominiert, nicht zur IS bekennt.

Es gibt auch Berichte über IS-Trainingcamps in Libyen. Auch hier behalten sich Experten ihr Urteil noch vor: Libyer – die im internationalen Jihadismus, auch bei Al-Kaida, immer schon überdurchschnittlich stark mitgemischt haben – sind zuletzt vermehrt aus Syrien und dem Irak zurückgekehrt. Ob sie das tun, um die IS nach Libyen zu importieren, ist noch nicht sicher. Der US-Sonderbeauftragte für den Anti-IS-Kampf, General John Allen, formuliert es laut Wehrey so: Man wisse noch nicht, ob die Lager ein Resultat eines "Rebranding" einer existierenden libyschen Gruppe oder eine neue IS-Initiative seien.

Gefolgschaft auf dem Sinai

Ähnlich ist die Situation auf der ägyptischen Halbinsel Sinai. Im November schwor die Gruppe "Ansar Beit al-Maqdis", die der ägyptischen Armee herbe Verluste zufügt, Abu Bakr al-Baghdadi die Gefolgschaft: Er sei von Gott auserkoren, ein neues Kalifat zu errichten. Allerdings war interessant, dass vom gleichen Twitter account, von dem diese Erklärung kam, kurz zuvor ein Dementi des Anschlusses gekommen war. Das wird als Hinweis darauf gelesen, dass die Hinwendung zur IS zumindest umstritten war.

Denn es ist unzweifelhaft, dass bei allen ideologischen Träumen von einem großen islamischen Kalifat in den Konflikten auf dem Sinai oder in Libyen oder anderswo lokale Ursachen – und Ziele lokaler Akteure – überwiegen. Das macht einen nachhaltigen Zusammenschluss all dieser Gruppen, die sich dafür auf einen einzigen Führer einigen müssten, ziemlich unwahrscheinlich. Dazu bräuchte es auch einen großen Charismatiker – wie es Abu Bakr al-Baghdadi ganz offenbar nicht ist. Eine Entwarnung bedeutet das nicht. Der "Islamische Staat" hat im vergangenen Jahr eine Kraft und Attraktivität entwickelt, die ihm niemand zugetraut hat. (Gudrun Harrer, DER STANDARD, 31.12.2014 / 1.1.2015)