Die britische Times hat die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel wegen ihrer Vermittlerrolle zwischen Ost und West zur "Person des Jahres 2014" gekürt. Im Leitartikel unter dem Titel "Die Unverzichtbare" würdigt die Zeitung Merkels Einfluss auf Russlands Präsident Wladimir Putin.

Das ist die Frau, die wir in einer Welt gefährlicher Männer brauchen", heißt es im Bericht des konservativen Blattes. "Sie hat dem Westen geholfen, sich auf seine wichtigsten Werte zu konzentrieren." Im Kreis der Regierungschefs habe sich, so die Times, nur ein Weltpolitiker profiliert: Angela Merkel. Das Blatt lobt Merkels "natürlichen Instinkt" , mit dem sie Putins Raubgier und die Krim-Annexion nicht ausschließlich verteufelt, sondern sich auch darum bemüht habe, dessen Ehrgeiz Grenzen zu setzen.

Merkel sagte einmal: "Putin lebt in einer anderen Welt." Dennoch sei es ihr gelungen, ihn in zahlreichen direkten Gesprächen zurück in ein internationales System mit geltenden Gesetzen zu locken. "Es wurden keine Türen verschlossen." Im Gegensatz zu den linken deutschen Kritikern des Merkel-Kurses findet die Times, dass Merkel das Spannungsfeld außerordentlich gut fülle, das sich zwischen jenen EU-Mitgliedern, die sich für eine Lockerung der Sanktionen gegen Russland aussprechen, und den USA, die die "Schlinge um den russischen Präsidenten und seinen inneren Kreis enger ziehen" wollen, auftut. Kein anderer Staats- oder Regierungschef spreche so oft mit Putin wie sie, und kein Politiker aus Europa sei in so engem Kontakt mit Obama wie Merkel. Diese für ein britisches Blatt vor dem Hintergrund der jüngsten Spannungen mit Premier David Cameron ungewöhnliche Lobeshymne endet mit dem Wunsch nach einer neuerlichen Kanzlerkandidatur Merkels im Jahr 2017.

Das Ansehen von Politikern kann sich allerdings außerordentlich schnell ändern. Im Jahr 2013 hat nämlich die Times Wladimir Putin zur Person des Jahres gewählt. Über ihn schrieb das Londoner Blatt vor einem Jahr unter anderem, dass er ein militärisches Eingreifen der USA in Syrien verhindert und die EU in der Ukraine-Krise überspielt habe. Er schien damals nicht nur in den Augen der Times-Redakteure so mächtig wie nie.

Wem würde es aber heute einfallen, Wladimir Putin zur Person des Jahres zu wählen? "Es war ein Jahr von Kriegen, Krisen und schrecklichen Krankheiten", sagte Merkel im Dezember auf dem CDU-Parteitag. Dass die zurückhaltende und vorsichtige Kanzlerin in der letzten Zeit den russischen Präsidenten so scharf und öffentlich kritisiert, hängt wohl damit zusammen, dass dessen diverse Zusagen über die Krim und dann über die Ostukraine schon Tage später nichts mehr wert waren.

Für die russischen Bürger und Unternehmen sind aber nicht die Sanktionen, sondern vor allem der durch die Ölschwemme und den rapiden Fall des Ölpreises ausgelöste Absturz des Rubels und seine Folgen entscheidend. Schon warnen angesehene Experten, Russland könnte es wie 1998 ergehen, als es praktisch bankrott war. Für 2015 bleibt aber die Kernfrage offen, ob der angeschlagene Putin statt Konzessionen in der Ukraine-Frage nach außen noch aggressiver auftreten wird. (Paul Lendvai, DER STANDARD, 30.12.2014)