"Die Zukunft beginnt mit Schläuchen", 1969. Acryl auf Leinwand, Artothek des Bundes.

Foto: UMJ / N. Lackner

Graz - Eine bucklige Riesenskulptur windet sich über den Rand des Glastrichters. Als "skulpturale Wucherung" und "Parasit" hat Norbert Nestler sie 2013 in schnellen, weißen Strichen auf Fotografien vom Besuchereingang des Grazer Joanneumsviertels gesetzt. Zu sehen sind diese Fotos in seiner Retrospektive in der Neuen Galerie Graz neben Skizzen, Modellen, Fotodokumentationen und Originalen aus knapp 50 Schaffensjahren.

Eines der frühesten Werke der Schau ist das Gemälde Wohin geht ihr fliegenden Brüste von 1967. Ein abstrahierter Körper verstellt darin den Blick auf eine gegen die Bildränder hin weiß zerfließende, wabernde Form mit einer Andeutung von Brustwarzen. An diesem Bild macht Nestler sein Abschließen mit dem bloßen Bildermalen fest, "da meine Gedanken bereits nach real räumlichen Auseinandersetzungen orientiert waren". Diesen Drang zum Dreidimensionalen tun in Papierarbeiten der Reihe art play (1968/69) sich windende Schlauchformen kund, die zehnteilige Schlauchgrafik von 1970 untersucht Rohrformen aus verschiedenen Blickwinkeln und wiederum den Schlauch als Schlinge.

Mit Balanceakt folgt noch im selben Jahr die erste Großplastik, eine aufrechte, geschwungene Wurstform aus Plexiglas, dem für Nestlers Werk prägendsten Material. Daneben arbeitet er unter anderem mit Aluminium, Samt und Peddigrohr. In seiner Formensprache angekommen, variiert der 1942 Geborene und Anfang des heurigen Jahres Verstorbene von nun an einmal gefundene Elemente in Skulptur und architektonischen Interventionen auf durchaus originelle, wenn auch manchmal erschöpfende Weise.

Dabei spielt er mit der Schichtung von Flächen, mit Scheiben, die so montiert sind, dass sie an kurvige Würste oder stramme Zigarrenformen denken lassen. Die "Welt in Scheiben schneiden" kommt für Nestler einer anatomischen Sektion gleich, deren Ziel es ist, "in neue Sichten der Welt und des Menschen einzutauchen". Dieser Mensch in der Gesellschaft ist sein Thema.

Mit den nicht ganz mannshohen Torbögen der Arbeit Mirror Gate etwa will er Enge für den eigenen Leib bewusst spürbar machen. In den Modellen zum nicht realisierten Käfigbrecher hingegen winden sich kräftige Flächen aus einem Metallkäfig nach draußen und illustrieren so den Ausbruch aus gesellschaftlichen Strukturen. Nestler will den Menschen befreien, wie er im allgemein freiheitsliebenden Jahr 1968 in seinem Staffeleikonzept verkündete. Nicht von ungefähr starren einen manche Arbeiten, zum Beispiel Der Voyeur, mit ihren Seeigelaugen geradezu flehend an.

Progressive Experimente

Die drei Räume seiner Ausstellung Die Kunst des Herrn Nestler durchwandernd, fühlt man sich irgendwo zwischen Minimal Art, futuristisch-experimentelle Architektur der 1960er-Jahre und eine Retro-Lampen-Kollektion eines schwedischen Möbelhauses versetzt. Doch hinter den Farb-, Form- und Materialexperimenten stehen soziale und im weitesten Sinne politische Interessen.

Und so war dieses Bunte, Weiche und Runde, das heute lustig und freundlich-harmlos wirkt, einmal nicht nur formal progressiv. "Einen Schritt voraus" nannte Nestler das Forum Stadtpark, dessen Abteilung für Bildende Kunst er von 1973 bis 1976 leitete und das einst über die Grenzen des Landes hinaus Aufsehen erregte.

Heute versucht das Universalmuseum Joanneum diese Geschichte zu verwalten, indem es die damalige Grazer Moderne ausstellt. Die Pharisäer (1972), die den Besucher wie eine Mischung aus Tiefseewesen und Roboter empfangen und verabschieden, künden von dieser kunsthistorisch gewordenen Welt jedenfalls wie freundliche Außerirdische. (Michael Wurmitzer, DER STANDARD, 29.12.2014)