Ein düsterer Steinstier und rosarote Zuckerwatte erwarten die Gäste am alten Prager Schlachthof – sowie verzauberte Wälder aus Gusseisensäulen, die die Firma Českomoravská Kolben-Daněk vor 120 Jahren am Vorstadtboden hochzog.

Doch wer durch die historischen Markthallen des Pražská tržnice spaziert, den begleiten vor allem gemischte Waren und Gefühle. Chinesische Händler bieten uigurische Leckerbissen und gepimpte Orchideen-Hybride an. Neben Billig-Dessous werden Handys repariert. Prags ehemaliger Schlachthof, durch den im Spitzenjahr 1929 über 75 Millionen Stück Vieh getrieben wurden, hat die Gentrifizierung wohl erst vor sich.

Foto: Robert Haidinger

Anfang der 1980er-Jahre wurde der Betrieb eingestellt. Übersehen ließen sich die Hallen aus der Ära der Industrialisierung auch danach nicht. Wechselnde Besitzer lavieren zwischen Billigmarkt, einer Prise Subkultur und grellem Entertainment. Die Scheinwerfer-Spots, die soeben durch den trüben Winternebel getragen werden, fallen definitiv in letztere Kategorie. Sie werden für eine private Party im SaSaZu-Club benötigt, der größten Clubbing Location Prags.

Raum für feine Nuancen

Bis zu 5.000 Tänzerinnen und Tänzer drängen sich hier mitunter und DJs von Weltrang. Doch der alte Fleischmarkt bietet auch Raum für feine Nuancen. Das verraten halb abgelöste Plakate, die seit letztem Sommer an den Scheiben kleben. Seit mehreren Jahren verwandelt sich die Schlachthof-Halle 7 jeden Juli in den "Holesovice Fashion Market", ein sommerlicher Fixtermin für Tschechiens Indie-Designer und Live Acts – Veggie-Catering inklusive.

Foto: Robert Haidinger

"Der alte Fleischmarkt hat ein Problem: Es gibt keine Regeln und keinen echten Masterplan. Aber es ist gut, sich dort umzusehen. Pražská tržnice ist wichtig für das historische Verständnis von Holešovice. Und Holešovice ist wichtig für die Zukunft der ganzen Stadt. Prag Sieben ist schwer im Kommen." Wenn David Kalista das sagt, muss etwas dran sein. Der Mann ist Chefredakteur der Design-Zeitschrift Homie und zugleich Ureinwohner eines häufig übersehenen Stadtteils im Herzen von Prag: Holešovice, das ehemalige Holleschowitz.

Kino und andere Showrooms

Wir sitzen im Café des Kinos Bio Oko, des ältesten Programmkinos der Moldau-Stadt, umzingelt von cineastischen Postern und einer Prise Art Déco. Kalista schlürft Caffè Latte und zählt Showroom-Eröffnungen auf. Mittlerweile hält er bei den Fingern der zweiten Hand: "Vor ein paar Wochen das Bistro 'Phill’s Twenty7', mit Innenarchitektur aktueller Lokalgrößen, den Cappellini-Entwerfern Jan Plecháč und Henry Wielgus.

Foto: Robert Haidinger

Gleich daneben der 'Cluster Holport' an der Komunardú-Straße: Lasvit, der tschechische Glasproduzent, eröffnete dort einen neuen Flagshipstore. Dann die 'Workstation Tonlab', eine Drehscheibe der jungen Möbeldesigner. Und natürlich das 'Paralel Polis', Prags spannendstes Internet-Cafe." Auf das ist der gebürtige Holešovicer David besonders stolz. Denn im 'Paralel Polis' kann man seine Drinks und Sandwiches mit der virtuellen Währung Bitcoins bezahlen.

Dichtes Netzwerk

Tatsächlich überrascht Prags Siebter Bezirk gerne auf den zweiten Blick: Mit Bahngleisen, die von der historischen Bahnstation Praha-Bubny zum einst modernsten Viehmarkt des ehemaligen k.u.k.-Territoriums abzweigen, und nun zum Mega-Tanzschuppen und zu Theater-Performances. Oder durch das dichte Netzwerk aus Architekturbüros, Designstudios und Galerien inklusive dem bereits 2008 eröffneten Museum DOX, dem Zentrum für Zeitgenössische Kunst.

Das Neue ist in Holešovice Programm, aber all das zeugt auch von Kontinuität. Gut abzulesen am wenige Schritte vom Kino Bio Oko entfernten, einstigen Messepalast Veletržní Palace, einem Schlüsselwerk der Prager Moderne: In den 1920er-Jahren diente er als wichtigste Vitrine für die prosperierende tschechoslowakische Industrie. Seit 1995 beherbergt der 120 Meter lange, streng gegliederte Bau die Sammlung moderner Kunst der Nationalgalerie.

Foto: Robert Haidinger

Die oberen Geschosse des eleganten, nach einem Großbrand lange leerstehenden Atriumbaus halten Picasso, französische Impressionisten, Klimt oder Lichtenstein bereit – von Vielem Etwas, aber von Keinem das Beste. Seit einiger Zeit kann man im Erdgeschoss, wo früher die neuesten landwirtschaftlichen Maschinen Europas präsentiert wurden, Alfons Muchas Monumentalzyklus "Das Schlawische Epos" sehen, düstere Gemälde, die vom feuchten Schloss in Moravský Krumlov hierher verfrachtet wurden. Die seit Jahren angedachte Wiedereröffnung des Dachterassen-Cafés wird aus Geldmangel auch weiterhin verschoben.

Veränderte Spielart der Prager Melancholie

Wer an der Karlsbrücke in die Waggons der Tramlinie 17 steigt, oder die grüne Metro-Linie C an den Stationen Vitavska oder Nadrazi Holešovice verlässt, ist schnell im Bilde: Dieser Bezirk legt eine veränderte Spielart der Prager Melancholie an den Tag, härter und kontrastierter als die mittelalterliche Prager Neustadt oder die Kleinseite Malá Strana. Romantische Dächerfluchten und Kopfsteinpflaster sucht man hier vergebens. Stattdessen kuschelt sich etwas Raues in die enge Moldau-Flussschleife, die das Viertel nordöstlich der Prager Altstadt hier von drei Seiten umschließt. Es ist genau dieser Moldau-Mäander, der Prag Sieben eine besondere Identität verleiht.

Foto: Robert Haidinger

Holešovice steht für industrielles Inselfeeling mitten in Prag. Zwischen den gründerzeitlichen Mietskasernen bieten moderne Lofts Blicke auf Fabriksdächer und ziegelrote Schlote. In alteingesessenen Souterrain-Lokalen werden řezané pivo – wörtlich: "geschnittenes" Mischbier – und Krautsuppe ohne mehrsprachiger Speisekarten serviert.

Verschnaufpause im Viertel

Groß angekündigte Neubauprojekte am brachliegenden Bahnhofs-Gelände Bubny wurden mit der Krise 2009 auf Eis gelegt. Das beschert Holešovice noch eine Verschnaufpause, die dem Viertel nicht schlecht ansteht. Doch zugleich genießen Orte wie die M-factory, die ehemalige Pragerschinkenfabrik, längst Kultstatus. Hier starteten die Betreiber der Galerie Křehký, Jana Zielinski und Jiří Macek, vor 16 Jahren das im Jahresrhythmus stattfindende Prager Event Designblok. Auch holešovický pivovar, die historische lokale Brauerei, hat die Verwandlung in Wohn- und Bürogebäude bereits hinter sich.

Ein Park für Relikte

Spaziergang zum Letná-Hügel, einem ehemaligen Militärgelände, in dem sich im November 1989 die ersten großen Zusammenballungen der Samtenen Revolution abgespielt hatten – vielleicht auch wegen des offenen Blicks über die Stadt. Gleich mehrere Relikte vergangener Weltausstellungen haben hier ihren Standort gefunden. Der Hanau-Pavillon erinnert an die tschechische Kunstfertigkeit beim Eisenbiegen anno 1891, und eine Treppe an die gestürzte Stalin-Statue des Parks. Jetzt führt sie ins Leere.

Noch etwas ist im Park vorhanden und verschwunden zugleich. Der wegen seiner flexiblen Stahlkonstruktion im Rahmen der Brüsseler Weltausstellung 1958 preisgekrönte Pavillion der ČSSR, zwischenzeitlich als Restaurant genutzt, beherbergt nun die Büros einer Werbeagentur.

Prag Sieben hat alles

Dass das Viertel unter Prager Expats besonders intensiv unter die Lupe genommen wird, wundert kaum. Die Nähe zur City, eine Moldau-Marina samt modularem Hausboot-Projekt, historische Grünanlagen, urige und Szene-Lokale, ein Technisches Museum und die studentische Lebendigkeit der Akademie der Bildenden Künste – Prag Sieben hat alles. (Robert Haidinger, DER STANDARD, 3.1.2014)