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Tunesische Soldaten bewachen ein Wahllokal in Sousse. Am Sonntag findet die Stichwahl zwischen Ex-Premier Béji Caïd Essebsi und dem amtierenden Übergangspräsidenten Moncef Marzouki statt.

Foto: EPA/STR

Tunis/Madrid – Tunesien möchte seine Wunden heilen lassen. Eine im Sommer ins Leben gerufene 15-köpfige "Instanz für Wahrheit und Würde" (IVD) nahm am 1. Dezember die Arbeit auf und begann in den vergangenen Tagen mit der Durchführung erster Interviews. Die Wahrheitskommission wird sich der 50.000 Opfer von Menschenrechtsverletzungen zwischen 1955 und 2013 annehmen.

600 Mitarbeiter werden Anhörungen durchführen und Dossiers erstellen. Der IVD steht mit der 64-jährigen Journalistin Sihem Bensedrine eine bekannte Menschenrechtlerin vor. Die Kommission hat vier Jahre Zeit, um diese Arbeit zu bewältigen – plus eine eventuelle Verlängerung um ein Jahr.

"Ich wünsche der Kommission viel Erfolg", erklärt Najet Ichéwi. Die 45-Jährige gehört zu den Opfern der dunkelsten Jahre. In den 1980er-Jahren war sie Presse sprecherin der Studentengewerkschaft UGTE. 1994 wurde sie zu einem Jahr Haft verurteilt.

Ichéwi erinnert sich: "Auf dem Kommissariat wurde ich zwei Wochen lang verhört." Die junge Frau wurde geschlagen und musste sich vor rund 50 Polizisten ausziehen. Dann kam, woran sich die meisten Gefangenen aus jener Zeit mit Grauen erinnern, das "poulet rôti" – das "Brathähnchen": Ichéwi wurde an Händen und Füßen gefesselt und an einer Stange kopfüber aufgehängt – stundenlang. Auch später im Gefängnis wurde sie immer wieder misshandelt. Ihre Stimme stockt, wenn sie davon berichtet.

Jahrzehntelange Verfolgung

Auch nach Ende der Haft war das Leiden nicht vorbei. "Ich durfte mich nicht frei bewegen, musste mich ständig bei den Behörden melden", berichtet Ichéwi. Neun Jahre dauerte es, bis sie ihren Uniabschluss machen konnte. Als sie 1995 heiratete, wurde sie zusammen mit ihrem Mann erneut festgenommen. "Wir hatten nicht um Erlaubnis gefragt."

An der ständigen Überwachung ging ihre Beziehung, aus der sie zwei Kinder hat, letztendlich kaputt. Erst seit der Amnestie, nach dem Sturz von Diktator Zine el-Abidine Ben Ali, darf sie arbeiten; als Gymnasiallehrerin.

"Alleine hier betreuen wir 1800 ehemalige politische Gefangene", berichtet die Chefin der Internationalen Vereinigung zur Unterstützung politischer Gefangener (AISPP), Saida Akrimi. Nach der Machtübernahme Ben Alis 1987 wurden 35.000 Islamisten sowie rund 1000 Linke und Gewerkschafter zu Haftstrafen verurteilt. "Nach 9/11 machte Ben Ali Jagd auf Salafisten", berichtet Akrimi. Ben Ali sah in jedem eine Gefahr. Wer entsprechende Internetseiten anklickte, galt automatisch als Terrorist. Akrimi: "Der Staat muss an all diesen Opfern Wieder gutmachung leisten", dazu gehöre auch, dass die Täter verfolgt werden.

Kritik von Essebsi

Das wird nicht leicht. Denn die Wahrheitskommission steht schon jetzt im Kreuzfeuer der Kritik. So beschimpfte etwa Präsidentschaftskandidat Béji Caïd Essebsi kürzlich die IVD als "Rachemaschinerie" und kündigte an, im Falle eines Wahlsieges die Kommission auflösen zu wollen. Der heute 88-Jährige war Innen- und Außenminister unter dem ersten Präsidenten, Habib Bourguiba. Und unter Ben Ali stand er eine Zeitlang dem völlig machtlosen Parlament vor und gehörte der Einheitspartei RCD an.

"Essebsi hat kein Interesse an der Aufarbeitung der Vergangenheit", erklärt die IVD-Vorsitzende Bensedrine. "Er kann uns allerdings nicht so einfach auflösen, dazu bräuchte er eine Zweidrittelmehrheit im Parlament. Die wird er nicht bekommen", ist sich Bensedrine sicher. Sie will die vier Jahre nutzen und vor nichts und niemandem haltmachen: "Auch nicht vor einem Staatspräsidenten", wenn dies nötig sei. (Reiner Wandler, DER STANDARD, 22.12.2014)