Anfang vierzig wird das rebellische Auge manchmal getrübt von Verlockungen der Konformität. Die Kinder sind da. Und mit ihnen die üblichen Verdächtigen: Ostern und Weihnachten. Alles, was man floh, lacht einem nun schadenfroh aus der Versenkung entgegen. Dem postrevolutionären Nachwuchs ist es nämlich piepegal, was für gedankliche Verrenkungen die Altvorderen einnehmen müssen, um Weihnachtsbaum, Gans und Co in ihren Lebensläufen zu installieren, die wollen feiern wie andere im Kindergarten auch.

Da hilft keine Verweigerung und keine Ideologie. Ein Ausgehkumpel von 1989 suchte anno 2014 verzweifelt Rat: Der vormals überzeugte Punk, der vergeblich auf die drohende Apokalypse gewartet und stattdessen ganz unanarchisch eine Fixanstellung, Frau und Kinder bekommen hatte, wusste nicht weiter.

"Kauf einen Baum", schlug ich ihm als Starterpack zum Bürgerlichwerden vor. Er seufzte. "Das ist schon mal gewaltig schiefgegangen." Ich begleitete ihn zum Weihnachtsbaummarkt. Unterwegs packte er aus: Das letzte Mal war er mit 19 auf so einem gewesen. Um das revolutionäre Gesicht zu wahren, die toleranten, aber traditionell eingestellten Eltern aber wie versprochen mit einem Baum zu versorgen, musste ein moralischer Spagat her. Versprochen war versprochen. Er wartete am Vorabend des Festes, bis der Markt ums Eck schloss, angelte geduldig eine Tanne aus dem Verhau und schleifte sie heim.

Die Schneedecke knirschte unter seinen Kampfstiefeln. Alles schlief. Einsam wachte nur der Baumdieb. Die Tanne nadelte. Er schlich die Treppen hoch und stieß sie durch die Tür. Sie blieb stecken. Er riss an. Umsonst. Kletterte fluchend über die Tanne in die Wohnung und versuchte, sie hereinzuziehen. Das Netz sprang auf. Der Baum öffnete sich halb am Gang, halb im Vorzimmer, einer Klobürste gleich.

Er trat nach. Äste brachen, die Tür ächzte, und sein Vater lief mit einem Besen herbei, um den vermeintlichen Einbrecher zu verjagen. Sie schafften die nadelige Bescherung ins Wohnzimmer, der Vater wischte den Schweiß von der Stirn und bedankte sich. In der Früh stand aber der Verkäufer vor der Tür, der wie Hänsel und Gretel den Brotkrumen den Schleifspuren im Schnee gefolgt war. Und verlangte vor versammelter Familie sein Geld. Der Kapitalismus hatte schon damals gesiegt. (Julya Rabinowich, DER STANDARD, 20.12.2014)