Wiener Trauergesellschaft in Künstlerkreisen: Krystian Lupa inszeniert Thomas Bernhards "Holzfällen" am Laznia-Nowa-Theater im Krakauer Stadtteil Nowa Huta.


Foto: Boska Komedia

Wiktor Rubins "Towiankiites, Kings of Clouds" im Nationaltheater Krakau.

Foto: Boska Komedia

Den Bühnen der ehemaligen polnischen Königsstadt Krakau ist in der Tischmappe des Hotels eine eigene Kartei gewidmet (den Gottesdiensten selbstverständlich auch). Das Theater rangiert hier also gleich hinter den wichtigsten Notrufnummern. Eine bemerkenswerte Tatsache, die das Selbstverständnis der Stadt als kulturelle und intellektuelle Metropole gleich klar macht. In Krakau war schließlich schon Tadeusz Kantor zu Hause oder Stanislaw Lem, hier steht die renommierte Jagiellonenuniversität und forschte Nikolaus Kopernikus.

Und die beiden Literaturnobelpreisträger, Czeslaw Milosz und Wislawa Szymborska, kann man heute noch aus der Wohnung läuten. Nicht leibhaftig, versteht sich (sie starben 2004 und 2012), aber ihre Stimmen melden sich, wenn man in der Bracka-Straße 3–5 an den betreffenden Türglocken läutet – mit Gedichtrezitationen.

Wie in vielen anderen vergleichbaren europäischen Großstädten auch (Krakau hat 760.000 Einwohner) ist der Bezug zur Vergangenheit heute ein nostalgischer. Auch die legendären Kabarettlokale, in denen man immer noch durch Schranktüren ins nächste, stockfinstere Zimmer kommt (etwa im "Keller unter dem Widder" am Hauptplatz Rynek Glowny), sind Denkmale einer vergangenen Zeit geworden und in Touristenziele umgewidmet.

Dantes "Göttliche Komödie"

Krakau hat heute ein reiches, mittlerweile recht snobistisches Stadtzentrum, hier regiert in der Vorweihnachtszeit das Coca-Cola-Halleluja. Daran ist nichts zu ändern. Inmitten dieser durch Verkauf und Glitzermagie beruhigten Zone, im Kulturbunker am inneren Parkring, geht aber jährlich ein Theaterfestival seiner Wege, das sein Gründer und Intendant Bartosz Szydlowski vor sieben Jahren wie einen Pfeiler in den Boden gerammt hat. Wie als Protest dagegen, dass alles schläft. "Ich wollte ein bisschen mehr Pfeffer", so der Regisseur. Eigentlich ist Szydlowski Theaterleiter im Arbeiterviertel Nowa Huta (elf Kilometer außerhalb). Mit Dantes "Göttlicher Komödie", die dem Festival Boska Komedia seinen Namen leiht, hat er sich in großer Geste die ganze darin versammelte Bandbreite universeller Anliegen vorgenommen.

Als Produkt einer neuen städtischen Kulturpolitik wurde das Festival vor sieben Jahren mit Pomp und Trara ins Leben gerufen, woraufhin im ersten Folgejahr das Budget aus Krise-Gründen gleich wieder halbiert und folglich das internationale Programm gestrichen wurde.

Heute kommt man zu Boska Komedia "wegen der polnischen Erfahrung", so Szydlowski. Dahingehend wurde die internationale Jury, zu der in diesem Jahr auch die ehemalige Schauspielchefin der Wiener Festwochen, Stefanie Carp, zählte, nicht enttäuscht. Für Außenstehende sind die Bezüge innerhalb der polnischen Theatertradition oft nicht klar. "Aufführungen aus anderen Ländern wirken manchmal so, als würde man satirische Malereien des 18. Jahrhunderts betrachten – man weiß, was gezeigt wird, kann es aber nicht restlos nachvollziehen, weil der Kontext fehlt", so Norman Armour, Jurymitglied aus Kanada.

Auf Altmeister Krystian Lupa und seine Thomas-Bernhard-Kennerschaft konnten sich aber doch alle Juroren einigen. Am Wochenende hat Lupa, der wichtigste zeitgenössische Theaterregisseur Polens, für seine, sich auch im Repertoire des Grazer Schauspielhauses befindende und dort schon Nestroy-prämierte Inszenierung von "Holzfällen" den Preis für die beste Regie und auch für die beste Produktion entgegengenommen. Piotr Skiba als Bernhard-Alter-Ego erhielt den Darstellerpreis. Beste Schauspielerin wurde Danuta Stenka in Grzegorz Jarzynas "The Second Woman", einer unerhört zerbrechlichen, gespenstischen Einsamkeitsstudie von John Cassavetes' Film "Opening Night".

Impulsgeber sein

"Ich will nicht die Crème de la Crème des polnischen Theaters zeigen, sondern ein Impulsgeber sein für Gruppen, die mehr am Rand stehen", gesteht Szydlowski. Darin liegt auch das Eingeständnis verborgen, dass das große zukünftige Theater derzeit nirgends stattfindet. Szydlowski macht sich über den Zustand der gegenwärtigen Kunst und deren Arbeitsbedingungen keine Illusionen. Er spricht von der grassierenden "Erosion des intellektuellen Ethos" und träumt davon, dass sich Kunstschaffende der nach Effizienz und Pragmatismus verwalteten Produktion widersetzen.

"Put money into a black hole!", ruft er der Kulturpolitik zu. Da heute kaum ein junger Künstler auf seine eigenen Ideen vertrauen würde, so Szydlowski, gäbe es derzeit trotz wichtiger Regisseure wie Krzysztof Warlikowski oder Grzegorz Jarzyna, "keine Chance auf einen zweiten Krystian Lupa".

Das Gute: Die meisten Vorstellungen bei Boska Komedia waren brechend voll, 6500 Zuschauer kamen in nicht einmal zehn Tagen. Und momentweise haben die Abende auch neue Horizonte aufgetan, so etwa Wiktor Rubins Inszenierung eines Stücks über den polnischen Apokalyptiker Andrzej Towianski oder das zwar reichlich moralinsaure, aber in seiner Narration erfindungsreiche, heftige Kleinformat "The Slippery Grass Road" (Regie: Pawel Wolak, Katarzyna Dworak). Längst baut Bartosz Szydlowski an einem "Internationalen Zentrum für Utopie". Glückauf! (Margarete Affenzeller aus Krakau, DER STANDARD, 16.12.2014)