Boston, USA an einem Nachmittag im Advent. Einzeln treffen die Mitglieder einer Arbeitsgruppe des Massachusetts Institute of Technology (MIT) in Suzannes Wohnung ein, jeder mit einem schön verpackten Geschenk unterm Arm. Suzanne ist die Organisatorin der Weihnachtsfeier, hier schlicht Holiday-Party genannt.

Der Ausdruck Weihnachtsfeier (christmas party) kommt hier niemandem über die Lippen, denn so international zusammengewürfelt die Belegschaft des MIT ist, so international werden die Feierlichkeiten gehalten. Die Geschenke der zehn Gäste werden fern den Blicken der anderen abgegeben und sobald sie komplett sind, in der Mitte des Raums für alle gut sichtbar zur Schau gestellt.

Foto: Ursula Schersch

Suzanne geht nun mit einem Sackerl durch die Runde "Jeder zieht eine Nummer", weist sie die Anwesenden an, während sie reihum geht. Einige der Beteiligten sind mit den Regeln noch nicht ganz vertraut, sind sie doch erst kürzlich nach Boston gezogen. Sie besprechen lautstark das Ergebnis der Ziehung. "Nein, nein. So geht das nicht. Vielleicht sollte ich euch vorher noch einmal die Regeln erklären", sagt Suzanne. "Alle Zettel zurück ins Sackerl. Wir ziehen noch einmal!"

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Dirty Santa versus Secret Santa

Yankee Gift Swap, wörtlich übersetzt Geschenkstausch der Nordstaatler, nennt sich ein an der US-Ostküste und vor allem im nördlichen Neu England beliebter Weihnachtsbrauch. Andere wiederum kennen das Weihnachtsspiel als Dirty Santa – in Anspielung an den Secret Santa (Wichteln oder Engerl Bengerl), mit dem Unterschied, dass hier "schmutzig" gespielt wird. Denn jeder hat die Möglichkeit, nach dem Öffnen des Geschenks dieses gegen ein anderes zu tauschen – ob das Gegenüber damit einverstanden ist oder nicht.

"Im Gegensatz zum Secret Santa müssen sich die Spieler nicht unbedingt gegenseitig kennen. Zudem können die Gäste sehr spontan entscheiden, ob sie die Party besuchen oder nicht – wer kommt, bringt ein Geschenk mit, das möglichst für jeden der Anwesenden passen könnte. Wenn jemand spontan ausfällt, ist das auch kein Problem", erklärt Jennifer Smith, die am MIT für Campus-Aktivitäten zuständig ist.

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Sparsamer Yankee

Nachdem Suzanne, Bostonerin mit Leib und Seele, die Regeln erklärt hat und betont, die Nummer der Spannung wegen doch bitte geheim zu halten, wird erneut gezogen. Brav bleiben diesmal Kommentare und Bewertungen zu Nummern und Reihenfolge aus. Suzanne nützt die Stille, um jene Beteiligten, die nicht genau um die Begrifflichkeit "Yankee" Bescheid wissen, aufzuklären. Ein Yankee sei eine Person aus dem Nordosten der USA. Im Civil War wurden die Nordstaatler Yankees genannt, die Südstaatler Confederates.

Der Begriff wird im Ausland allerdings gerne für alle Amerikaner verwendet, ob Norden oder Süden. "Der Ausdruck Yankee ist nicht unbedingt ein Kompliment. In Neu England wird damit eine Palette an Charakterzügen assoziiert, manche erstrebenswert, andere weniger", erklärt Suzanne. So sei ein Yankee oft wortkarg, sparsam, praktisch und wirtschaftlich denkend, ehrlich, aber zugleich auf den eigenen Vorteil bedacht. Warum also nach einer Feier mit einem Staubfänger nach Hause gehen, wenn andere Geschenke brauchbar wären?

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Höflichkeit ist falsch am Platz

"Letztes Jahr hatten wir eine sehr internationale und natürlich viel zu höfliche Gruppe, niemand wollte dem anderen sein Geschenk wegnehmen", schildert die Organisatorin im Vorfeld und appelliert an die Teilnehmer, dieses Jahr doch ein wenig frecher zu sein. Des Spiels wegen. "Oft ist diese Höflichkeit auch kulturell geprägt", sagt Jennifer Smith.

"Auch wenn die beteiligten Personen um die tragende Rolle des Tauschens und Wegnehmens Bescheid wissen, ist es doch für viele schwer, alle für sie bisher geltenden Konventionen über Bord zu werfen und einmal ganz egoistisch nur an sich selbst zu denken." Erleichternd wirkt hingegen die Tatsache, dass niemand weiß, wessen Geschenk er gerade in Händen hält. Auf diese Weise fällt zumindest der Gedanke weg, den Schenkenden zu beleidigen, wenn das Geschenk weggetauscht wird.

Erste Zweifel von offensichtlicher Oberflächlichkeit des Spiels und fehlender Mühe bei der Auswahl der Geschenke, werden von der lockeren Atmosphäre eines Gesellschaftsspiels abgelöst. Gespieltes Konkurrenzdenken gepaart mit fehlendem Ernst tragen zur Leichtigkeit der Stimmung bei.

Foto: Ursula Schersch

"Dieses Spiel ist nicht ernst gemeint, es geht darum, Spaß zu haben", fasst Smith zusammen. Zudem wird im Vorfeld ein Höchstlimit für die Geschenke festgelegt, um die Angelegenheit finanziell niederschwellig zu gestalten und der Sache den Ernst zu nehmen. Im Fall der Arbeitsgruppe liegt die Spanne, die ein Geschenk kosten darf, zwischen 5 und 10 Dollar.

Der Tausch

Die farbenfroh verpackten Geschenke liegen in der Mitte des Raums, rundherum sitzt die bunt gemischte Gruppe, bestehend aus echten Yankees und Zugezogenen, die gespannt darauf wartet, wer die Nummer 1 gezogen hat. Mariana ist die Glückliche. Sie darf sich eines der vielen Geschenke aussuchen und öffnen.

Zum Vorschein kommt ein Plastik Trinkbecher "to go", mit Schneemannmotiv. Mariana hat noch niemanden, mit dem sie ihr Geschenk tauschen könnte, daher wird mit der Nummer 2 fortgesetzt. Die Nächste öffnet ihr Geschenk und tauscht die gerade geöffnete Bodylotion prompt gegen Marianas Kurzzeitgeschenk. Während so reihum Geschenke geöffnet und getauscht werden, wird die Auswahl immer größer.

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Im Laufe des Abends wechseln Bücher, Badezubehör, Spielzeug, Tees, Souvenirs und Geschirr ihre Besitzer. Die Tricks mancher Teilnehmer werden dabei zunehmend berechnend. Sie schwärmen dermaßen von ihrem Geschenk, um alle anderen von einem potenziellen zukünftigen Tausch abzuschrecken. Freilich, immer hilft auch das nicht. Während sich die Spiel-Neulinge eher davon erweichen lassen, lässt das die alten Hasen kalt. "Don’t get attached", hallt die Warnung, sich am besten erst gar nicht an das Geschenk zu gewöhnen einige Male durch den Raum.

Als letzte darf Mariana mit der Nummer 1 ihr Geschenk tauschen. Sie hat die größte Auswahl und schaut sich jedes Geschenk genau an. Kosmetikprodukte, Tees, Süßigkeiten und Bücher stehen zur Auswahl. Schlussendlich wählt sie eine schlichte, rote Teetasse mit Siebeinsatz und Deckel. Ganz in Yankee Manier geht die Mexikanerin mit einem brauchbaren Geschenk nach Hause, das bestimmt kein Staubfänger wird.

Nächste Chance: White Elephant

Für all jene, die zu bescheiden waren oder einfach Pech beim Tausch hatten und auf einem weniger begehrten Geschenk sitzen geblieben sind, ist eine "White Elephant" Party ein Silberstreifen am Horizont. Bei diesen Partys, die oft nach Weihnachten und zu Silvester stattfinden, bringt jeder Gast einen "white elephant", ein unbeliebtes Geschenk, mit und nach ähnlichem Regelwerk beginnt das fröhliche Geschenketauschen von vorne. (Ursula Schersch, derStandard.at, 20.12.2014)