Es gibt derzeit kaum ein weltpolitisches Thema, bei dem Fakten, Missverständnisse und ungenierte Propaganda derart verschwimmen wie im Ukraine-Konflikt. Ein Versuch der Aufklärung:

1. Die Russische Föderation ist nicht die Sowjetunion. Zwar ist sie formal deren Rechtsnachfolgerin, doch ist sie nur einer ihrer Nachfolgestaaten, die Ende 1991 auf der Basis der 15 Sowjetrepubliken begründet wurden. Obwohl Wladimir Putin gerne die imperiale Vergangenheit beschwört, hat Russland keinen Anspruch auf Hegemonie im ehemaligen Territorium der UdSSR, sondern alle 15 Nachfolgestaaten, unter ihnen die Ukraine, sind gleichberechtigt und souverän. Dieses Missverständnis zeigt sich auch in der verbreiteten Gleichsetzung von Russen und Sowjetbürgern. Im Frühjahr 1945 marschierten nicht nur "Russen" in Wien ein, sondern sowjetische Soldaten, unter ihnen zahlreiche Ukrainer.

2. Die Ukrainer sind keine Russen. Zwar sprechen die beiden Völker verwandte Sprachen und gehören mehrheitlich der orthodoxen Kirche an, doch sind sie unterschiedliche Nationen. Die ukrainische Nation formierte sich im Rahmen des Königreichs Polen-Litauen, und in der Mitte des 17. Jahrhunderts bestand vorübergehend ein unabhängiger ukrainischer Herrschaftsverband. Nachdem am Ende des 18. Jahrhunderts die meisten Gebiete der Ukraine unter die Herrschaft des Zarenreichs gekommen waren, verzögerte sich die Nationsbildung, nicht zuletzt infolge einer rigiden Russifizierungspolitik. Diese wurde in der Sowjetunion nach einer Phase der Ukrainisierung in den 1920er-Jahren fortgesetzt und erst in der unabhängigen Ukraine wurde die Nationsbildung wieder aufgenommen. Die Ukrainer sind also eine verspätete Nation, wie auch die Russen, die ebenfalls erst seit dem Fall der Sowjetunion über einen eigenen Staat verfügen und sich als Nation entfalten können.

3. Dass etwa die Hälfte der Bevölkerung der Ukraine russischer Muttersprache ist, bedeutet nicht, dass die Russophonen automatisch einen Anschluss ihrer Regionen an Russland befürworten. Die Ukraine ist ein zweisprachiges Land und definiert sich nicht als ethnisch-sprachliche, sondern als supraethnische politische Nation. Im Dezember 1991 hatten sich 90 Prozent der Bevölkerung für die Unabhängigkeit des Landes ausgesprochen, und allen Umfragen zufolge bekennt sich auch heute die überwiegende Mehrheit der ukrainischen Staatsbürger, auch im Osten und Süden des Landes, zum ukrainischen Staat. Erst das militärische Eingreifen Russlands hat eine separatistische Bewegung im Osten des Landes ausgelöst. Auf dem Kiewer Euro-Maidan wurde viel Russisch gesprochen, ebenso wie in der ukrainischen Armee, die gegen die Separatisten kämpft. Zahlreiche ukrainische Schriftsteller schreiben ihre Werke in russischer Sprache, der bekannteste unter ihnen ist Andrej Kurkow, der sich selbst als ukrainischen Patrioten bezeichnet.

4. Die russischsprachigen Ukrainer unterlagen und unterliegen keiner Politik der gewaltsamen Ukrainisierung, sondern auch nach 23 Jahren Unabhängigkeit dominiert im Osten und Süden des Landes die russische Sprache. Russland begründet sein militärisches Eingreifen dennoch mit dem Schutz seiner "Landsleute" (gemeint sind die russischsprachigen ukrainischen Staatsbürger) vor Repressalien. Die Vorwürfe Präsident Putins und der russischen Propaganda, dass in der Ostukraine "ethnische Säuberungen" und ein Genozid stattfänden, sind völlig aus der Luft gegriffen. Die ethno-nationalistische Rhetorik erinnert aber fatal an die "völkischen" Ansprüche im Europa der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts.

5. In Kiew regieren keine "Faschisten", sondern gewählte Vertreter von in ihrer Mehrheit nationaldemokratisch ausgerichteten Parteien. Es ist zwar nicht zu leugnen, dass auf dem Maidan und in Freiwilligenbataillons radikale nationalistische Gruppen vertreten sind, die man als "Faschisten" bezeichnen kann. Nur gibt es kaum ein europäisches Land ohne rechtsextreme Kräfte, man denke etwa an Frankreich oder Ungarn, aber auch an Russland. So waren unter den selbsternannten Führern der "Volksrepubliken" im Donbass russische Staatsbürger, die neonazistischen nationalistischen Parteien angehört hatten. Das heißt nicht, dass man die extremistischen Gruppen in der Ukraine (wie in anderen Ländern) nicht ernst nehmen soll.

6. Der Euro-Maidan war nicht das Resultat einer gegen Russland gerichteten, von den USA und der EU angestifteten und finanzierten Verschwörung. Zwar wurden NGOs in der Ukraine vom Westen unterstützt, doch war der Maidan mit seinen hunderttausenden Demonstrierenden eine spontane Bewegung zivilgesellschaftlichen Ungehorsams. Als es gelang, den Präsidenten zu stürzen, griff Russland militärisch ein, weil ein erfolgreicher Maidan der russischen Opposition als Vorbild dienen könnte - eine Horrorvision für den Autokraten Putin. (Andreas Kappeler, DER STANDARD, 13.12.2014)