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Tränengas gegen Demonstranten im Istanbuler Stadtteil Üsküdar, wo eine kleine Parkfläche mit Bäumen einer Moschee weichen soll. Das Bild stammt von Anfang November.

Foto: EPA/SEDAT SUNA

Tausend Bäume sind nichts in der Türkei. Wenn der Boss das will, irgendein Bauunternehmer oder Kraftwerksfreddie, sind die ruck, zuck in ein paar Tagen aus der Landschaft gesägt, und groß ist die Türkei sowieso, 700 Kilometer breit und 1.600 lang, da fällt das nicht auf. Zumindest bis vor nicht allzu langer Zeit fiel das wirklich nicht auf. Da war das so wichtig wie die Reissäcke in China, und wer weiß schon, wie viele dort davon herumstehen.

Aber jetzt ist das irgendwie vorbei, jetzt sind tausend gefällte Bäume hier oder da in der Türkei ein Politikum, das die Leute aufregt und die Journalisten auf dem Keyboard tippen lässt. Manche gehen sogar nachts auf Baumwache, und andere bringen ihre Zelte und Teekocher mit, damit die Sägetrupps nicht kommen können. Selbst aus der Bäumefällerpartei AKP von Staatspräsident Tayyip Erdogan hört man bisweilen einen Politiker, der sagt, ja, das ist aber jetzt nicht schön. Und dann röhren die Waldmopeds wieder los.

Hier ist ein kurzer und wie immer unvollständiger Abriss der jüngeren Baumprotestgeschichte der Türkei:

Gezi, Mai/Juni 2013: Ins öffentliche Bewusstsein gerückt hat natürlich der Gezi-Park in Istanbul das Baumproblem der Türkei; damals, in den letzten Maitagen 2013, ging es um ein halbes Dutzend Bäume, die mit Maschinengewalt aus dem Parkboden gerissen oder plump umgesägt wurden, bis sich der Volkszorn erhob und Schlimmeres verhinderte. Der Minister für Wald- und Wasserangelegenheiten hat das gar nicht verstanden. Wegen der paar Bäume im Park!, sagte Veysel Eroglu (AKP). "Fünf Millionen neue Bäume" würden in Istanbul dafür gepflanzt, erklärte er, alles schon entschieden und beschlossen. Es wurde nicht mehr klar, ob es sich dabei um ein Beispiel für orientalische Hyperbolik handelte, die in der türkischen Politikbranche üblich ist, und es war eh schon egal, weil der Protestzug abgefahren war und die Istanbuler Stadtverwaltung am Ende selbst wieder im Gezi-Park die Bäume gepflanzt hat, die sie vorher hatte herausreißen lassen.

AOC, 2012–2014: Steht auch auf französischen Weinflaschen, meint aber hier den Atatürk Orman Ciftliği in Ankara, den öffentlichen Waldpark des Republikgründers Kemal Atatürk, der jetzt so nicht mehr ist, weil dort nun der 1.150-Zimmer-Palast von Atatürks Nachfolger Erdogan steht (dieser hat nach langen Spekulationen selbst die Raumzahl genannt). Für den Protzpalast musste ein nicht unbedeutender Teil des Waldes plattgemacht werden – daran lässt sich nicht rütteln –, andererseits aber sollen Informationen der regierungsunfreundlichen Tageszeitung "Cumhuriyet" zufolge für den präsidentiellen Palastgarten Tannenbäume aus Deutschland herangefahren worden sein, in 280 Lastwagen und zu einem Stückpreis von 3.000 Euro.

Urla, Dezember 2014: Der jüngste Eintrag in der Baumchronik. Die Einwohner um das Dorf Ovacik, Distrikt Urla, Provinz Izmir, werden mit einer Windkraftanlage beglückt. Die Turbinenräder brauchen natürlich ordentlich Platz zum Drehen, deshalb sollen 1.300 Bäume weg, darunter ein großer Teil Pinien. Noch kämpft das Dorf aber und hat Einspruch bei Gericht eingelegt.

Soma, September–November 2014: Die Kolin-Gruppe, ein Bauunternehmen, das auch an den Erdarbeiten für den dritten Flughafen in Istanbul mitwirkt, ließ trotz mehrwöchigen Protests der Einwohner und unterstützt von zwei Bussen rabiater Sicherheitsleute 6.000 alte Olivenbäume um das Dorf Yircali fällen. Dort muss Platz für ein Kraftwerk gemacht werden, und alles sah noch unschöner aus, weil Yircali im Distrikt Soma liegt, jener Bergarbeiterstadt, wo im Mai 2013 beim schwersten Minenunglück in der Geschichte der Türkei 301 Bergleute ums Leben gekommen waren. Danach wurde auch noch den Bauernfamilien der Lebensunterhalt weggesägt. Das Verwaltungsgericht in Ankara hatte es untersagt, allerdings zehn Stunden zu spät. "Wir brauchen Kraftwerke. Aber es ist falsch, die Umwelt in gedankenloser, zügelloser Weise zu zerstören", erklärte Numan Kurtulmus, einer der stellvertretenden Regierungschefs. Das rechte Gleichgewicht zwischen Entwicklung und Bewahrung der Umwelt gelte es zu finden, sagte er. Seine Regierung hatte allerdings die Baugenehmigung in den Olivenhainen erteilt. Am Ende nicht schlimm: Mit den Einnahmen aus dem geplanten Kohlekraftwerk könnten neun Millionen neue Bäume gepflanzt werden, errechnete Energieminister Taner Yildiz. Das Kraftwerk bringe jährlich 153 Millionen türkische Lira ein, die Ernte von den 6.000 Olivenbäumen aber nur eine Million.

Yalova, November 2014: Auch die Opposition lässt sägen, dort, wo sie noch regiert. Vefa Salman, Bürgermeister der sozialdemokratisch-nationalen CHP in Yalova am Marmarameer, waren 180 Alleebäume im Weg für den Bau einer prima Überführung. Das fanden allerdings auch seine Parteifreunde im Parlament in Ankara nicht in Ordnung. Muharrem Ince, der bei der Kommunalwahl im Frühjahr noch eine Neuauszählung in Yalova durchgeboxt hatte und am Ende Salman mit hauchdünner Mehrheit ins Amt bringen konnte, entschuldigte sich für das Kettensägenmassaker "bei den Einwohnern von Yalova, der Türkei und der Menschheit" und versprach die Neuanpflanzung von – 1.800 Bäumen; zehnmal mehr also, da ist man nicht kleinlich. Melda Onur, eine streitbare CHP-Abgeordnete aus Istanbul, ließ die Tat fassungslos. "Wie sollen wir das nach Gezi verteidigen?“, fragte sie ihre Partei.

Dritter Flughafen/dritte Bosporus-Brücke, seit 2013: 19,6 Kilometer der künftigen Nordmarmara-Autobahn gehen, 110 Meter breit, durch die Wälder im Norden Istanbuls über die dritte Bosporus-Brücke. Da musste vorher einiges weg: geschätzte 1,6 Millionen Bäume. Beobachter sagen, die Bauarbeiter vergruben zum Teil die gefällten Bäume einfach in der Erde, weil es schneller war, als sie erst zu verladen und zu einem Sägewerk zu bringen. 900.000 Bäume dürften zusätzlich auf der europäischen Seite für ein Autobahnstück zum neuen Flughafen in die Horizontale gehen.

Der dritte Flughafen (gerüchteweise vorgeschlagener Name: Recep-Tayyip-Erdogan-Flughafen), ebenfalls im Norden Istanbuls, wird derzeit auf einer Fläche von 7.600 Hektar aus dem Boden gestampft, rund 6.000 Hektar waren Wald. In einer ersten Umweltprüfung war noch von der Umpflanzung von etwa 1,8 Millionen Bäumen die Rede (und 650.000, die gefällt würden). Das galt damals schon als völlig unrealistisch.

Validebag, seit Oktober 2014: Nicht immer geht es nur um Kraftwerke und andere kapitalträchtige Infrastruktur. Das fromme Rathaus im Istanbuler Stadtteil Üsküdar, in dem auch Präsident Erdogan seinen privaten Wohnsitz hat, beschloss den Bau einer weiteren Moschee auf einem der letzten grünen Flecken des Stadtteils (Üsküdars Friedhöfe ausgenommen). Die Mehrheit der Einwohner des Distrikts Altunizade wolle es seit Jahren so, behauptet der Bürgermeister (AKP). Ein Gericht hat einen Baustopp angeordnet, der aber nicht als bindend empfunden wird. Die Auseinandersetzungen zwischen campierenden Umweltaktivisten und der Polizei dauern an. (Markus Bernath, derStandard.at, 12.12.2014)