"Sag halt, dass wer anderer das Bild gemacht hat", schlug Elisabeth Niedereder vor. Und bedauerte lächelnd: "Aber jetzt muss ich weiter. Du weißt eh: Intervalle, da kann ich nicht ewig Pause machen." Sprach's und war weg, bevor ich Ciao sagen konnte. Auch unter normalen Umständen hätte ich keine Chance gehabt, da länger als 30 oder 40 Meter auf gleicher Höhe zu bleiben. Und an einem Tag wie heute? Die Frage streichen wir.

Foto: Thomas Rottenberg

Intervalle mit einer Mittelstrecken-Spezialistin

Ja, eh: Niedereder ist Leistungssportlerin. Ich Hobbyläufer. Allein das sollte ausreichen, den Unterschied – jeden Unterschied – bei Leistung, Tempo und Performance zu erklären. Aber hin und wieder geht es sich aus: Wenn Läuferinnen (und Läufer) wie die – laut Wikipedia – 20-fache Leichtathletik-Staatsmeisterin sehr gemütlich traben, können Normalos manchmal kurz mithalten. Und da die 29-Jährige auch eine Trainingsplattform für ambitionierte Jedermann/-frau-Sportler betreibt, weiß sie, wie das mit dem Mitlaufen ist. Nur: Intervalle mit einer Mittelstrecken-Spezialistin? Nicht in diesem Leben.

Anfangen bei null

So gesehen war es eh okay, dass wir einander just vergangenen Samstag zufällig auf der Hauptallee über den Weg liefen: Ich fange gerade wieder an. Bei null. Ziemlich genau einen Monat lang war ich kein einziges Mal laufen (oder sonst wie Sport machen). Da spürt man Körperstellen und -teile, von deren Existenz man bisher nicht die geringste Ahnung hatte. Und zwar bei Intensitäten und Umfängen, die man davor nicht einmal als Warm-up durchgehen lassen hätte.

Foto: Thomas Rottenberg

(Okay: "Man" ist natürlich ein Fluchtversuch. Schon alleine, weil sieben Achtel der hier regelmäßig Postenden jetzt umgehend festhalten werden, dass sie auch nach einem Jahr im Liegegips aus dem Stand einen Marathon in unter zwei Stunden 25 … weil das normal sei. Wenn man nicht vollkommen ahnungslos und neben der Spur … und so weiter. Ich gratuliere herzlich – und werde auch weiterhin keine Sekunde daran zweifeln, dass Menschen, die anonym über ihre sportlichen Großtaten referieren, nie flunkern.)

Egal. Niedereder war mir begegnet, als ich gerade erst das dritte Mal nach der Pause unterwegs war: In New York, Anfang November, hatte ich mit meiner entzündeten Achillessehne russisches Roulette gespielt – und war entgegen jeder sportmedizinischen Vernunft gestartet. In voller Kenntnis des Risikos. Im Wissen, dass ich dafür bezahlen würde: Dass Trainerin und Physiotherapeut danach einen Monat Totalsperre verordnen mussten (und ich mich in den ersten 14 Tagen keine Sekunde nach Laufen sehnte), war ohnehin noch ein guter Preis.

Es beginnt zu jucken

Trotzdem: Nach zwei Wochen juckte es mich. In der dritten begannen Freunde, Verwandte und Bekannte bei Trainerin Sandra Illes und Physiotherapeut Stefan Hackauf zu intervenieren: Meine körperliche Gesundheit sei zwar ein wertvolles Gut, aber die psychische Gesundheit meiner Mitmenschen auch. Sollten die beiden mich nicht bald wieder laufen lassen, würden die Schäden, die meine Laune am mentalen Wohlbefinden meiner Umwelt mittlerweile verursache, demnächst zu einer richtig nachhaltigen Beeinträchtigung meiner Physis führen. Herbeigeführt durch Menschen, die mich eigentlich gern hätten. Aber im Affekt … und so weiter.

Ob es daran lag, dass ich nach vier Wochen wieder starten durfte, will ich nicht hinterfragen. Jedenfalls eröffnete mir Stefan Hackauf freudestrahlend, dass "du jetzt wieder laufen darfst". Honigkuchenpferdgrinsend setzte er nach: "Maximal zehn Minuten. Und nicht schneller als sieben Minuten am Kilometer."

Ich weiß ja nicht, was Ihr Sportpensum ist. Aber ich bin mir ziemlich sicher: In zehn Minuten wärmen Sie sich nicht einmal auf. Zehn Minuten sind nichts. Weniger als nichts. Gar nichts. Aber Hackauf strahlte, als verkünde er, dass ich drei Nobelpreise bekäme und das Wal- und Waldsterben beendet hätte. Zehn Minuten. Oida!

Zehn Minuten spüren

Natürlich spürte ich die zehn Minuten trotzdem. Siehe oben. Auch beim zweiten Mal. ("Mindesten 48 Stunden Pause dazwischen! Und wenn du irgendwas spürst, hörst du sofort auf!") Und: Natürlich spürte ich "irgendwas". Ebenfalls siehe oben: Mein Körper revoltierte dagegen, aus dem Winterschlaf-Keksfress-Sofasitz-Nichtstu-Modus gezerrt zu werden. Noch dazu bei Kälte, Nässe, Nebel, Wind und sonstigen "Wäää"-Wetterfaktoren.

Doch da war auch die andere Fraktion. Die, die für die Entzugserscheinungen zuständig ist. Die meuterte auch: zehn Minuten? Normalerweise trabe ich 15 Minuten locker ein, und beginne dann erst zu laufen. Zehn Minuten? Das ist so, als würde man einem Kind einen Eisbecher mit seinen Lieblingssorten vor die Nase setzen und nach einer Zungenspitzenberührung des Löffels alles abservieren. Zehn Minuten? Das ist, wie im Lieblingslokal die Speisekarte zu lesen und am gedeckten Tisch zu sitzen — und dann den Kellnern fürs Vorbeitragen der Speisen Haltungsnoten zu geben. Zehn Minuten? Das ist wie … Okay, ich schreibe jetzt nichts über keinen Sex, sondern halte mich ans Vaterunser: "Und führe uns nicht in Versuchung."

Erwischt

Ich bin schwach. Und erlag. No na. Beim dritten Mal: Statt der erlaubten zehn war ich schlanke 37 Minuten unterwegs, als ich Elisabeth Niedereder auf der Hauptallee über den Weg lief. Und Sekunden nach dem ersten Hallo wusste ich: Das war nicht besonders schlau. Weil: Eigentlich hatte ich ja nicht erwischt werden wollen.

Die Hauptallee ist der Dorfplatz der Wiener Laufgemeinde. (Es gibt noch ein paar andere, Schönbrunn zum Beispiel.) Irgendwen trifft man immer. Wenn man nicht gesehen werden will, ist hier zu laufen in etwa so schlau, wie einen Bankraub per Zeitungsinserat anzukündigen. Oder sich beim Schulschwänzen als Innere-Stadt-Gymnasiast in den 90er-Jahren ins Café Krugerhof zu setzen: Nicht nur einmal tauchte unser Klassenvorstand dort auf, das Klassenbuch in der Hand. Aber: Wir lernten es nie.

Ertappter Schulbub

Allem Anschein nach habe ich dieses Manko an praktischer Intelligenz bis heute mitgenommen: Ich stand da wie ein ertappter Schulbub – und obwohl Niedereder nicht meine Trainerin ist (und es eine Art Ehrenkodex gibt, die Kunden von Kollegen nicht mit Zurufen von der Seite zu traktieren), bekam ich eine Standpauke: "Du hast Probleme mit der Achillessehne und läufst bei sechs Grad mit einer knielangen Hose und kurzen Sockerln? Geht's noch?" Das war der Anfang. Dann kamen noch ein paar Dinge, die ich schlicht und einfach nicht hören wollte. Und zum Finale die Frage, wie lange ich unterwegs sei – und wie lange Sandrina Illes mir, "und zwar aus gutem Grund", erlaubt habe: "Oops, na das sind aber lange zehn Minuten …"

Stimmt alles. Weiß ich alles auch selbst. Darum verteidigte ich mich auch nicht. Aber hielt – und halte – eines fest: Manchmal kann man nicht vernünftig sein. Manchmal geht es einfach nicht. Manchmal muss man tun, was Spaß macht. Eben weil es Spaß macht.

Die Pause zwischen Niedereders Intervallen war vorbei. Sie zwinkerte komplizinnenhaft: "Ja, eh. Dann sag halt, dass wer anderer die Fotos gemacht hat." Und weg war sie. (Thomas Rottenberg, derStandard.at, 12.12.2014)