Sarah Diehl

"Die Uhr, die nicht tickt. Kinderlos glücklich"

15,50 Euro/272 Seiten, Arche Verlag Zürich/Hamburg 2014

Foto: Arche Verlag

Kinderlose Frauen über 30 kennen das. Herzen sie die Babys von FreundInnen, wird das entweder mit einem gerührt-konspirativen Blick stumm kommentiert, oder es wird geradeheraus nachgefragt, wie es denn nun um den eigenen Nachwuchs stehe. Wenn die Antwort lautet, Kinder seien jetzt wie auch später nicht geplant, bekommen die Jüngeren zu hören, "das kommt schon noch". Bei Frauen über 35 wird diese Entscheidung nicht selten mit einem "Na, wenn du das später mal nicht bereust" kommentiert.

Vor allem für Frauen gibt es noch immer Rechtfertigungsdruck, wenn sie keine Kinder haben und auch ihre Zukunft kinderfrei planen. Wohingegen Frauen mit Kindern oder mit Kinderwunsch ihren Lebensentwurf nicht argumentieren müssen. Warum eigentlich? Weil mit Kindern immer besser ist als ohne – für das Individuum wie für die Gesellschaft? Diese Frage stellt Sarah Diehl (Interview mit Sarah Diehl) in ihrem kürzlich erschienenen Buch "Die Uhr, die nicht tickt. Kinderlos glücklich".

Diehl, die seit Jahren zu reproduktiven Rechten arbeitet, kombiniert in dem Buch Hintergrundinformationen und Analysen über gesellschaftspolitische und sozioökonomische Zusammenhänge mit Interviews mit Frauen, die nicht in Vater-Mutter-Kind-Konstellationen leben. Von ihnen erfuhr Diehl, wie weit die medial befeuerte Opposition zwischen "selbstbezogenen", "karriereorientierten", "verantwortungsscheuen" kinderlosen Frauen und Müttern danebengreift. Letztere könnten es zwar, so Diehl, auch niemandem recht machen; aber immerhin gelten Frauen, die Mütter sind oder werden wollen, als "normal".

Kinderlosigkeit bei Männern: kein Thema

Die Gründe, sich gegen Kinder zu entscheiden, sind vielfältig. Dennoch bleiben die herrschenden gesellschaftlichen Umstände in den seltensten Fällen außen vor und spiegeln sich auch in der Gestaltung des Buches wider. Denn Kinder oder auch die Frage, ob man welche will, sind "Frauensache". Sarah Diehl wollte ursprünglich auch Männer befragen, warum sie sich für oder gegen Kinder entschieden haben. Doch es fehlte an auskunftsbereiten Männern. Diehl hatte den Eindruck, dass die meisten "noch nie tiefergehend über das Thema nachgedacht hatten". Die meisten Männer ohne Kinder kennen den Legitimationszwang nicht, mit dem viele Frauen Bekanntschaft machen. Männer werden "mit ihrer Entscheidung schlicht in Frieden gelassen", schreibt Diehl.

Wie sehr das Thema Fortpflanzung noch immer an das Leben von Frauen geknüpft wird, zeigt das Buch auch in dem Abschnitt über "natürliche Mutterinstinkte". Diehl führt anhand historischer Abrisse aus, dass solche Instinkte immer dann "natürlich" wurden, wenn sie bestimmten Interessen an geschlechterspezifischen Arbeitsteilungen Vorschub leisteten.

Nur die "Eigenen", bitte

Auch in der Klage über sinkende oder stagnierende Kind-pro-Frau-Zahlen in Deutschland (und auch Österreich) zeigen sich deutliche Interessen: Es werde vor allem der Mangel an Nachwuchs einer autochthonen Bildungselite bedauert, Drohszenarien wie Überalterung und ein instabiles Pensionssystem werden verbreitet. Gleichzeitig "nehmen wir in Kauf, dass in den vergangenen Jahren etwa 20.000 Menschen bei dem Versuch, nach Europa zu gelangen, ihr Leben ließen", schreibt Diehl in dem Abschnitt über Nation, Rassismus und Klassismus. Thilo Sarrazin bezeichnete die Demografie von Muslimen etwa "als Waffe", die "gegen uns" gerichtet wird – ein Beispiel für blanken Rassismus hinter der Sorge um "den eigenen Nachwuchs".

Geht es um Kinder, sind auch bei den Entscheidungen der Einzelnen meist automatisch "die eigenen" gemeint. Diehl macht sich nach ihrem sehr gelungen Querschnitt durch persönliche Beweggründe und die Frage, wie diese mit Politik und gesellschaftlichen Zwängen korrespondieren, für alternative Lebensmodelle stark – ohne das Mehrheitsmodell Vater-Mutter-Kinder zu diskreditieren. Die Gesellschaft lebe schon heute eine Vielfalt, die aber noch eine viel geringere Anerkennung als die Kleinfamilie erfahre. Patchwork, Patenschaften, gleichgeschlechtliche Elternschaft, Pflegekinder – es wäre laut Diehl höchst an der Zeit, dass sich die Familienpolitik gleichermaßen für soziale wie für biologische Elternschaft einsetzt.

Ein wichtiges Buch für Menschen ohne und mit Kindern, das den Blick für die unterschiedlichsten Lebensentwürfe schärft und für Toleranz wirbt. Diehl erinnert engagiert und klug auch daran, dass man sich in Zeiten des Haderns über bestimmte Lebensentscheidungen nicht dazu verführen lassen sollte, die eigenen Entscheidungen aufzuwerten, indem man andere abwertet. Denn letztlich kann nur so vermieden werden, dass Frauen über 30 die Frage nach Kindern Schweißperlen auf die Stirn treibt. (Beate Hausbichler, derStandard.at, 11.12.2014)