Beinahe wie Schriftzeichen muten die feinen Gravuren an.

Foto: Wim Lustenhouwer, University Amsterdam

Die ältesten geometrischen, von Menschenhand geschaffenen Muster wurden vermutlich mit einem Haizahn eingraviert.

Foto: Wim Lustenhouwer, University Amsterdam

Leiden/Wien - Die Kunst ist so alt wie die Menschheit selbst - das wird zumindest gerne behauptet. Tatsächlich häuften sich heuer Belege dafür, dass das menschliche Kunstschaffen tiefer in die Zeit zurückreicht und weiter verbreitet war, als man bisher dachte: Im Oktober etwa berichteten Forscher von Höhlenmalereien auf der indonesischen Insel Sulawesi, die mindestens so alt sein dürften wie die ältesten bekannten Kunstwerke Europas. Nur wenige Wochen später verkündeten Archäologen die Entdeckung von vergleichbaren Malereien in China und Thailand, die ebenfalls bis zu 40.000 Jahre alt sein könnten.

Geometrische Muster, sofern man diese als eine Art Kunst betrachten will, kennt man sogar von noch älteren Artefakten: In Höhlen am Fluss Klasies in Südafrika fanden Wissenschafter vor zwei Jahren Ockerklumpen mit eingravierten Linien, die auf rund 100.000 Jahre datiert wurden. Nun aber berichtet ein niederländisches Team um Josephine Joordens von der Universität Leiden im Fachmagazin "Nature" von einer Entdeckung, die die Schaffung abstrakter Muster gleich um mehrere 100.000 Jahre weiter in die Vergangenheit verlegt. Mehr noch: Die Funde weisen darauf hin, dass offenbar nicht allein der moderne Homo sapiens zu derartigen kreativen Leistungen in der Lage war.

Die Wissenschafter hatten Funde aus der Sammlung des niederländischen Anthropologen Eugene Dubois genauer unter die Lupe genommen. Dubois erlangte durch seine Entdeckung des Java-Menschen im Jahre 1891 weltweite Berühmtheit. Von seinen Grabungen in Trinil auf der indonesischen Insel Java brachte er neben diesen ersten Hominini-Fossilien von außerhalb Europas auch zahlreiche weitere Funde mit in seine Heimat, darunter einige Muscheln.

Kreativer Homo erectus

Es waren vor allem diese Süßwassermuscheln, die es Joordens angetan haben. Viele der Muschelschalen etwa weisen Spuren auf, die auf eine Verwendung als Werkzeuge hindeuten. Am spektakulärsten aber war, was die Forscher an der Außenseite einer einzelnen Muschel entdeckten: Die Oberfläche ist mit einer Reihe von gewissenhaft eingeritzten Linien bedeckt. Einige bilden die Form des Buchstabens M, andere lassen sich als ein spiegelverkehrtes N beschreiben.

Die Datierung brachte schließlich die Sensation: Die Muscheln stammen aus der sogenannten Hauptknochenschicht des Fundortes Trinil und dürften damit zwischen 430.000 und 540.000 Jahre alt sein. Der Schluss, den die Forscher daraus ziehen, erschüttert die bisherigen wissenschaftlichen Annahmen: Die geometrischen Muster wurden aller Wahrscheinlichkeit nach von Vertretern des Homo erectus angefertigt. Bisher galt als gesichert, dass allein der moderne Mensch zu derart feinen Gravuren befähigt sei.

Für Joordens hat dies weitreichende Bedeutung: "Obwohl es noch nicht möglich ist, die Funktion der gravierten Muschel zu bewerten, weist ihr Fund darauf hin, dass das Einritzen abstrakter Muster im Rahmen der geistigen und motorischen Fähigkeiten des asiatischen Homo erectus lag." (Thomas Bergmayr, DER STANDARD, 4.12.2014)