Der Spott und die Geringschätzung, mit denen Stefan Hopmann in einem Kommentar im Standard ("Bildung im Baukastensystem ändert nichts", 24. 11. 2014) das Schulreformkonzept der Industriellenvereinigung bedacht hat, sind weder fair noch gerechtfertigt. Zur "Vorverlegung der Einschulung" meint Hopmann, er kenne keine Forschung, dass dies "immer oder wenigstens meistens" vorteilhaft sei. Es hätte keiner besonderen Anstrengung bedurft, sich über den Stand der Forschung im Bereich der Schnittstelle von Vorschule und Grundschule (international mit "Early Childhood Education and Care" (ECEC) bezeichnet) kundig zu machen.

Die OECD-Projekte "Starting Strong II" (2006) und "Starting Strong III" (2013) bieten ebenso wie der Eurydice-Bericht "ECE in Europe: Tackling Social and Cultural Inequalities" (2009) hervorragende Einblicke in den Forschungsstand und Begründungen dafür, warum frühkindliche Bildung in so gut wie allen OECD-Ländern zu einer bildungspolitischen Priorität geworden ist. Zur Anregung der IV, durch ein "nulltes" Schuljahr (Startschuljahr) für Fünf- bis Sechsjährige die elementare Bildung aufzuwerten und mit der Grundschule zu verknüpfen, gibt es - mutatis mutandis - zahlreiche analoge Beispiele, etwa die "grande section" der französischen École maternelle, das englische "foundation year" oder die schwedischen "Förskoleklassen".

Bürgerliche Wertkultur

Wenn eine so sehr von der bürgerlichen Wertkultur geprägte Institution wie die Industriellenvereinigung für eine gemeinsame Schule bis zum Ende der Sekundarstufe I plädiert, dann sicher nicht aus Jux und Tollerei, sondern in Kenntnis der Mängel des früh auslesenden österreichischen Schulwesens, welche die Nationalen Bildungsberichte 2009 und 2012 drastisch aufzeigen. Die IV ist sich offensichtlich bewusst, dass die gegenwärtige Zweigliedrigkeit der Sekundarstufe I viele Unterschichtkinder daran hindert, ihr "Bürgerrechts auf Bildung" wahrzunehmen und ihr Begabungspotenzial voll zu realisieren; selbst wenn es der IV allein um die Mobilisierung der Begabungsreserven für den Wirtschaftsstandort Österreich ginge (was aus dem Konzept nicht herauszulesen ist), würden die von der frühen Selektion Benachteiligten davon profitieren.

Herr Hopmann scheint hingegen für den Fortbestand des schulorganisatorischen Status quo zu plädieren, was insofern erstaunlich ist, als er als Erziehungswissenschafter wissen dürfte, dass die Auslese mit neuneinhalb Jahren neurologisch zu früh und daher hochgradig unverlässlich ist, dass sie mit sozialer Segregation verbunden ist, dass sie Kinder aus bildungsfernen Familien benachteiligt und dass es keine bildungstheoretische Rechtfertigung für zwei Schultypen auf der Sekundarstufe I gibt. Selbstverständlich löst eine gemeinsame Sekundarstufe I nicht alle pädagogischen Probleme. Der herkunftsbedingte Sozialisationsmalus, den manche Kinder haben, bleibt auch in Gesamtschulsystemen bestehen, aber er wird nicht - wie bisher - durch die selektive Schulorganisation massiv verstärkt.

Schlachten der heiligen Kuh

Einer der bedeutsamsten Aspekte des Konzepts ist die Betonung der Zäsur der Bildungslaufbahnen mit 14 Jahren, was dem Schlachten der heiligsten Kuh im Stall der konservativen Bildungspolitik, der Gymnasiumslangform, gleichkommt. Nach den IV-Vorstellungen soll für alle Kinder (nicht bloß Hauptschüler) die Entscheidung über die weitere allgemeinbildende oder berufsbildende Schullaufbahn am Ende der Sekundarstufe I neu gestellt werden. Was im bildungspolitischen Diskurs übersehen wird, ist der Umstand, dass dies bei vielen AHS-Schülern auch jetzt schon der Fall ist.

Es trifft nämlich keineswegs zu, dass die große Mehrheit der Kinder, die im Alter von zehn Jahren in eine gymnasiale Unterstufe eintreten, acht Jahre später an dieser Anstalt auch maturiert. Da wären zuerst einmal die Sitzenbleiber und die von der AHS-Unterstufe in die Hauptschule (bzw. nunmehr Neue Mittelschule) Abgestuften. Und dann verlassen nach dem Nationalen Bildungsbericht 2012 am Ende der Unterstufe 37 Prozent der Schülerinnen und Schüler die AHS, die meisten davon in Richtung einer Berufsbildenden Höheren Schule. In der Zahl der an einer AHS verbleibenden Schüler verbirgt sich zudem ein in der Schulstatistik nicht ausgewiesener, vermutlich aber erheblicher Anteil von Schülern, die von ihrer "Stammanstalt" in ein Oberstufenrealgymnasium mit einem anderen Schulprofil gewechselt sind.

Bildungsbürger

Und schließlich verzeichnen die AHS-Oberstufen beim Übergang von der neunten Schulstufe (die von manchen Kindern bloß zur Beendigung der Schulpflicht unter Meidung der ungeliebten Polytechnischen Schule "zweckentfremdet" wird) zur zehnten Schulstufe einen weiteren Schülerschwund von 26 auf 20 Prozent der Alterskohorte. Von wegen achtjährige Langform. Wenn die gemeinsame Sekundarstufe I dort, wo es Eltern und Lehrerschaft wünschen, Latein als Wahlfach und damit als quasigymnasiale Option anbietet, sollte auch das Bildungsbürgertum mit dem Konzept der IV leben können.

Falls die Hopmann'sche Kritik am Schulreformprogramm der IV etwas damit zu tun haben sollte, dass er nicht zur Mitarbeit eingeladen wurde, hätte ich einen kleinen Trost für ihn: Die IV hat auch auf meine Expertise verzichtet. (Karl Heinz Gruber, DER STANDARD, 1.12.2014)