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Einigte die Linken zu einer Partei: Victor Adler.

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Verteilte um und baute das Rote Wien: Hugo Breitner.

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Baute den Sozialstaat aus, bis es nicht mehr ging: Bruno Kreisky.

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Wer verstehen will, wozu die Sozialdemokratie gut ist, der lese nach - etwa bei Max Winter. Am 11. August 1901 beschrieb er die "Höhlenbewohner in Wien" in der Arbeiter-Zeitung: "Wie schlafen die sechs Menschen in der Hütte? Es sind zwei Bettverschläge da, ein größerer und ein kleiner. In dem größeren liegen Mutter und Vater, in dem kleineren drei Kinder und das vierte Kind muß sich auf den Erdboden legen. Die beiden Aeltesten wechseln damit ab, trotzdem dieses Lager auch nicht härter ist, als das Lager in den Betten, die statt der Matratzen und Strohsäcke Bretter als Unterlage haben, auf die eine Binsenmatte und altes Gelump gebreitet ist." Elende Zustände

Und dann folgen seitenweise Darstellungen der Proletarier, die für wenig Geld härteste Arbeit zu leisten hatten: "Hier sehen wir den 'Kubikos' an der Arbeit. Die weiten Hosen bis zum Gesäß aufgestreckt, die nackten Füße in Schnürschuhen steckend, die bis über die Knöchel reichen, den Oberkörper durch ein offenes flatterndes Hemd mit Stutzärmeln nothdürftig bedeckt, auf dem Kopf ein kleines rundes Huterl, speckig und dreckig wie der ganze Mensch. So angethan schiebt er Karren um Karren vom Schotterschiff herauf über die Böschung und entleert den Inhalt dann auf die Straße, deren Contouren sich schon von der Umgebung abheben. Bärenmenschen sind es mit stählernen Muskeln, sonngebräunt sind sie wie Tropenmenschen und fleißig, unermüdlich fleißig. Karren um Karren schiebt er herauf: zehn, zwanzig, dreißig in der Stunde, hunderte im Tag.

So arbeitet er. Und Abends kriecht er in seine Hütte, legt sich auf sein Lammsfell, schneidet sich von dem Speck, der tagsüber als Fliegenfutter über seinem Bette hängt, ein Stück herab, dazu einen Brotkeil, ein Fläschchen Schnaps, ißt und schläft dann hinüber ins Land der Träume, oder er wälzt sich, von hunderten Flöhen und Wanzen gepeinigt, auf seinem Lager. So genießt er. Mehr Thier als Mensch in beidem: Während der Arbeit, beim Genießen."

Solch elende Zustände abzustellen, war die Sozialdemokratie angetreten, auf ihrem Einigungsparteitag an der Jahreswende 1888/89 in einem Gasthaus im niederösterreichischen Hainfeld - im Jänner hat sich die SPÖ zum 125. Jubiläum eine kleine Feier geleistet. Was waren das für Mühen gewesen in den ersten Jahren! Da war jedes noch so kleine Recht hart zu erkämpfen - von all dem, das wir heute als Arbeitsrecht kennen, bis zum Wahlrecht, das der Proletarier damals auch noch nicht hatte. Aber man kämpfte darum.

Mit erstaunlich friedlichen Demonstrationen, auf denen Männer im Bratenrock und mit Demokratenhüten ("die Hüte sind innen mit den Photographien von Lassalle, Marx etc. versehen", inserierte der Hutfabrikant August Heine aus Halberstadt) für eine bessere Welt warben. Den Achtstundentag forderten. Und die karge Freizeit zu organisieren versuchten.

Revolutionär war man nie

Revolutionär war die österreichische Sozialdemokratie nie, auch wenn sie sich gerne so gab. Sie war es nicht unter dem Kaiser, sie war es nicht in der Republik. Selbst als sie existenziell bedroht war, als der Schutzbund im Februar 1934 zu den Waffen griff, waren die Parteiführung und wohl auch die Mehrheit der Mitglieder eigentlich dagegen.

Die Roten setzten auf die Macht der Geduld - über die Zeiten und Systeme hinweg.

Der klassenbewusste Proletarier war dabei nicht nur ein geduldiger, sondern auch ein gebildeter Mensch - arbeitete ständig auch an sich und der spezifischen Arbeiterkultur. Arbeiterkulturvereine bildeten die Vorläufer, später den emotionalen Kern der Sektionen der Partei. Singend und spielend, mit Sport und Weiterbildung wurde ein neues, befreiendes Lebensgefühl verbreitet: "Mit uns zieht die neue Zeit." Stück für Stück ging es voran.

In den ersten Jahren zäh, die Massenpartei war ja erst im Aufbau, und selbst kleine Zugeständnisse beim Wahlrecht galten schon als Fortschritt. Ab 1896 durften auch mittellose Männer ab 24 in der 5. Kurie mitwählen, 1909 kam das allgemeine, gleiche Wahlrecht für Männer ab 24.

Kämpferische Frauen verlangten nach Gleichberechtigung. Und sie organisierten die Arbeiterinnen und Dienstmädchen - nach dem Zusammenbruch der Monarchie 1918 kam dann auch für sie das Wahlrecht.

Noch lebten viele Menschen so, wie sie Max Winter um die Jahrhundertwende erlebt hatte, mehr noch: Der Weltkrieg hatte nicht nur weitere Bewohner in die Elendsquartiere der Städte gebracht, er hatte auch zur Verarmung der Mittelschicht geführt. Die Sozialdemokraten entdeckten die Umverteilung und betrieben sie vor allem in Wien mit einer Entschlossenheit, die bürgerliche Kreise verschreckte.

Die KPÖ klein gehalten

Der Austromarxismus bildete das ideologische Rüstzeug - die pragmatische Umsetzung entzog andererseits der an der Jahreswende 1918/19 noch durchaus populären Rätebewegung rasch die Grundlage. Wohnbauten ungekannter Größe entstanden, wurden zum Symbol des Roten Wien.

Für radikale Elemente war da kein Platz, die KPÖ blieb in der Ersten Republik eine Randerscheinung, und sie blieb es auch in der Zweiten. An deren Beginn nannte sich die SPÖ noch "Sozialistische Partei - Sozialdemokraten und revolutionäre Sozialisten" - in Anlehnung an die illegale Untergrundpartei, die im Austrofaschismus (und unter Nutzung der Infrastruktur der Arbeiterkulturvereine) einen Rest an Parteiarbeit aufrechterhalten hatte.

Aber revolutionär war man 1945 noch weniger als 1918. Es folgte der Pragmatismus von großen Koalitionen. Das Elend hatte sich in Weltkrieg und Nachkriegszeit noch einmal gezeigt - aber es war bald zumindest zurückgedrängt. Und schien irgendwo im Wirtschaftswunder zu verschwinden. Es ging aufwärts. Für alle.

Dann kam Bruno Kreisky. Er gab den Österreichern, die "ein Stück des Weges" mit den Sozialisten gingen, das Gefühl, etwas Besonderes zu sein. Absolute Mehrheiten für die SPÖ, das wurde damals verstanden als: absolute Mehrheiten für Fortschritt und Modernität, für kürzere Arbeitszeit und mehr Sozialleistungen. Die SPÖ war auf dem Höhepunkt nicht nur ihrer Macht, sondern auch ihrer gesellschaftlichen Anerkennung. 1983 kam der bedächtigere Fred Sinowatz - er sprach aus, dass die Dinge komplizierter sind.

Die Party ging zu Ende. Man sagt, die Sozialdemokratie (wie sie sich ab 1990 wieder nannte) sei an ihren eigenen Erfolgen gescheitert. Da ist rechnerisch etwas dran: 1979, zur Zeit ihres größten Wahlerfolgs, hatte die SPÖ 721.000 Mitglieder, inzwischen sind es nur noch 205.000. Alte Genossinnen und Genossen sterben weg.

Neue sind schwer zu organisieren. Weil das Organisieren in einer fragmentierten Gesellschaft an sich schwer geworden ist. Es gibt mehr Arbeitnehmer denn je - aber das sind keine Proletarier. Es sind ja alle Mittelstand. Oder fast alle. Zumindest dem Selbstverständnis nach.

Das Elend ist zurück

Und das Elend? Es ist nicht weg, ganz weg war es wohl nie. Aber es ist in schrecklicher Weise wieder größer geworden, auch in Österreich. Es gibt sie wieder, die Familien, in denen nicht jeder ein eigenes Bett hat. Die Arbeiter, die rackern ohne soziale Absicherung. Die von Fleisch minderer Qualität leben. Die kein Wahlrecht haben.

Man nennt sie verschämt Migranten. Da ist kein proletarisches Klassenbewusstsein, das ihnen die Hand reicht. Da ist keine Arbeiterpartei, die dieses neue Proletariat zu organisieren bereit wäre. Keine Sozialdemokratie, die das Wahlrecht für diese Menschen fordern würde. Oder die eine proletarische Arbeiterkultur zu schaffen imstande wäre, die die Zugewanderten so integriert, wie sie das vor 125 Jahren getan hat. Das wäre nicht populär in einer Partei, deren Gefolgschaft satt ist und fürchtet, schon bald nicht mehr satt zu sein, wenn auch Flüchtlinge arbeiten dürfen. Pragmatisch klammert man sich an das, was dem Zeitgeschmack gerade noch zumutbar ist. (Conrad Seidl, DER STANDARD, 29.11.2014)