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Thomas Glavinic über Estibaliz Carranza: "Es gibt viele Wahrheiten. Ich hasse es zu urteilen. Über diese Frau will ich nicht urteilen."

Foto: REUTERS/Leonhard Foeger

Ein nicht ganz dummer und nicht ganz unbekannter Mann sagte einst, er habe noch nie von einem Verbrechen gehört, das er nicht auch selbst hätte begehen können. Das ist eine klare Aussage. Erstens ist jedoch anzunehmen, dass er sie nicht ganz wörtlich meinte, zweitens waren das andere Zeiten.

Zu Zeiten Goethes wurde nicht so fantasievoll verbrochen. Damals gab man dem anderen eins über den Kopf, erstach oder erschoss ihn, und damit hatte sich die Sache. Mit den neuen Medien ist das anders geworden, die Mörder lesen und hören von anderen Mördern, die ihre Sache gut genug gemacht haben, um ins Geschichtsbuch oder in die Zeitungen zu kommen, und las-sen sich von ihnen inspirieren. Das sind Mörder, die keineswegs im Affekt handeln, das sind bedachte Verbrecher, die ihr Projekt von langer Hand planen und mit professioneller Präzision erledigen, was sie erledigen zu müssen glauben.

Nach meinem Geschmack ist das noch um einiges abartiger als das, wofür Estibaliz Carranza, genannt "die Eislady", weil sie ein Eisgeschäft in Meidling führte, freundschaftlich gerufen "Esti", zu lebenslanger Haft mit Sicherheitsverwahrung verurteilt worden ist.

Ich sitze neben ihr. Ich befinde mich im Besuchsraum der Justizanstalt Schwarzau. Wir haben eine halbe Stunde Zeit. Die abgegriffene Wendung, man schaue jemandem tief in die Augen, liest man ja ungern, aber in diesem Fall muss ich sie gebrauchen, denn genau das tue ich, während ich mit ihr spreche, während ich sie frage, wie es ihr geht, während ich zuhöre, was sie mir erzählt. Wir duzen uns, irgendwie hat sich das gleich ergeben. Sie ist mir sympathisch. Ob das auf Gegenseitigkeit beruht, kann man bei jemandem wie ihr nicht sagen.

Eine geständige Mörderin

Frau Carranza ist Österreichs Amanda Knox. Schön, geheimnisvoll, im Gegensatz zu Amanda Knox jedoch eine geständige Mörderin. Sie hat ihren Mann, der sie jahrelang beschimpft und misshandelt hatte, mit einer der in diesem offenbar ungewöhnlichen Haushalt stets herumliegenden Pistolen im Affekt erschossen, von hinten, während er ein Ego-Shooter-Spiel am Computer spielte und sie wüst beleidigte.

Nach der Tat verließ sie die Wohnung. Sie irrte umher, kehrte zurück und stand vor einem gewaltigen Problem, nämlich einer Leiche, die sie zu verantworten hatte. In so einer Situation gibt es zwei Möglichkeiten: Entweder man ruft die Polizei und beichtet, was man getan hat. Oder man will die Konsequenzen der Tat nicht tragen und bemüht sich, die Leiche verschwinden zu lassen. Schon lange frage ich mich, was ich in dieser Lage täte. Vielleicht sitze ich auch deswegen jetzt hier.

Esti entschied sich für das Verheimlichen, man könnte auch sagen, etwas in ihrem Kopf entschied sich dafür. Sie überschüttete ihren Mann, der noch immer auf dem Schreibtischstuhl saß, mit Schnaps und zündete ihn kurzerhand an. Wie allgemein bekannt ist, funktioniert die klassische Kremierung unter anderen Umständen. Um jemanden einzuäschern, sind enorm hohe Temperaturen nötig, die in Wohnungen nicht erreicht werden können. Der Leichnam begann nur ein wenig zu rauchen und unangenehme Gerüche zu entwickeln. Dies rief die Nachbarn auf den Plan, die die Feuerwehr verständigten.

Die Feuerwehr klopfte, Esti öffnete, es gelang ihr, den Feuerwehrleuten zu versichern, dass keinerlei Gefahr bestünde, es sei ihr beim Kochen das Öl angebrannt. Während dieser Unterhaltung saß das Mordopfer zwei Meter von der Tür entfernt auf seinem Stuhl und schwelte vor sich hin.

Ich frage Esti nicht nach dem Warum. In ihrer Autobiografie, die sie zusammen mit der renommierten Kriminalreporterin Martina Prewein geschrieben hat, wird dieser Frage nachgegangen, auch dort findet sich keine schlüssige Antwort. Ich glaube auch nicht, dass es sie gibt.

Man kann nicht alles letztgültig erklären, was in einem Kopf vor sich geht, ob das Mord ist oder die Idee zu einem Gemälde oder der Entschluss, eine Karriere im Management zu starten. Wir kennen uns selbst nur flüchtig. Ich frage Esti lieber nach ihrem Alltag. Was sie erzählt, klingt nicht lustig. Ihren aktuellen Ehemann, den sie während der Haft geheiratet hat, und ihren Sohn, den sie in der Haft geboren hat, darf sie nur unter Aufsicht sehen, und die sogenannte Kuschelzelle, in der andere Häftlinge einmal im Monat ein paar Stunden ungestört mit ihren Partnern verbringen dürfen, bleibt ihr verschlossen. Esti ist zu gefährlich, sagt das Gutachten.

So, wie ich hier neben ihr sitze, überdies flankiert von unserem gemeinsamen Anwalt Werner Tomanek, begreife ich zwar nicht, worin die Gefährdung durch eine 55 Kilogramm schwere Frau, die ganz bestimmt nicht mit einer Beretta ausgestattet ist, liegen könnte, aber solche Tatsachen muss man wohl einfach zur Kenntnis nehmen.

Ich glaube etwas in Estis Augen zu sehen, das ich noch nie an einem Menschen gesehen habe. Ich frage mich, ob ich mir das womöglich einbilde - weil ich ja weiß, was sie getan hat.

Die Geräusche des Sägeblatts

Nachdem die Feuerwehr abgerückt war, verließ Esti erneut Hals über Kopf die Wohnung. Sie kehrte erst nach Tagen zurück. Schon im Treppenhaus schlug ihr Verwesungsgeruch entgegen. Die Nachbarn grüßten und fragten, ob sie wieder Fisch gekocht hätte. Vor ihrer Wohnung erwartete sie eine Pfütze aus Blut und Leichenwasser. Es waren ungewöhnlich heiße Frühlingstage, die Leiche befand sich in einem schaurigen Zustand. Esti übergab sich, dann fuhr sie zum Baumarkt und besorgte sich eine kleine Hydraulikmaschine. Neben einer voluminösen Tiefkühltruhe, die in einer Ecke stand, baute sie das Gerät zusammen. Sie rollte den Leichnam ihres Mannes auf dem Schreibtischsessel zur Plattform der Hydraulikmaschine. Er war zu schwer, die Seile rissen. Esti fuhr in ein Heimwerkergeschäft und kaufte eine Motorsäge. Die Verkäufer schulten sie im Schnellkurs ein. Sie fuhr nach Hause und begann die Leiche zu zerteilen.

Wie ich so neben ihr sitze, glaube ich ihr, dass sie die Bilder nicht aus dem Kopf bekommt, all das Blut, die Geräusche des Sägeblatts, das einen Knochen erreicht. Ich frage nicht danach. Ich frage auch nicht, wie es war, die einzelnen Körperteile in die Tiefkühltruhe und in Eiswannen zu verfrachten. Wir werden ohnehin von einem der Beamten, die in der Nähe stehen und uns mit Argwohn betrachten, im Gespräch unterbrochen.

Offenbar ist jemand auf die Idee gekommen, meinen Namen bei Google einzugeben. Man legt mir einen Zettel vor, auf dem ich unterschreiben soll, nichts von diesem Gespräch journalistisch zu verwenden. Ich frage, ob das ein Witz sein soll. Mein Anwalt sagt, das könne ich getrost unterschreiben, es habe keinerlei Rechtsgrundlage. Ich unterschreibe. Ich bin ja auch kein Journalist.

Mein Anwalt ist Schikanen gewohnt. Jemand, der Straftäter aus der Unterwelt vertritt und als österreichischer Rechtsbeistand der Hells Angels fungiert, wird sowieso schon als problematische Figur angesehen, zudem hat er vor einigen Jahren ein Buch mit dem Titel "Die Zwei-Klassen-Justiz" geschrieben.

Angst vor der Justiz

Darin schildert er anhand realer Fälle, wie leicht ein unschuldiger Normalbürger bis hin zum Verlust seiner Existenz in die Fänge der Justiz geraten kann, und analysiert präzise, wie viele menschliche und kriminaltechnische Ressourcen durch die Konzentration von Ermittlern auf die lapidare Blut- und Raubkriminalität gebunden ist, wodurch modernere, intelligentere Straftäter, etwa im Hochfinanzsektor, mehr oder minder ungehindert ihren Machenschaften nachgehen und damit ganze Volkswirtschaften vernichten können.

So jemand macht sich in Österreich nicht viele Freunde. In seinem Fall führte es zu allerhand Drangsalierungen, bis hin zu der Ungeheuerlichkeit, dass Ermittler von Zelle zu Zelle gehen und Klienten von ihm mit einem gewissen Nachdruck nach belastenden Informationen über ihn befragen. Seit der Lektüre seines Buches habe ich jedenfalls mehr Angst vor der Justiz als vor der Doppelmörderin neben mir.

"Was empfindest du hier drin als am schlimmsten?", frage ich sie. "Dass ich nicht zu meinem Kind kann."

Strafvollzug ist kein Ponyhof, Mörder können nicht erwarten, im Hotel untergebracht zu werden, aber kaum Kontakt zum eigenen Kind haben zu können, das ist Strafverschärfung. Aber die Gutachterin hält sie für brandgefährlich. Nach der Tat verdrängte Esti so gut wie möglich, was sie getan hatte. Ich stelle mir das einigermaßen schwierig vor, mit einer Tiefkühltruhe und einer Eiswanne voller Leichenteile des Exmannes in der Nähe. Tiefkühltruhe und Eiswanne wurden schließlich mit Beton ausgefüllt und von hilfsbereiten Menschen in den Keller befördert.

Frau Carranza scheint unter einem Hang zu Männern zu leiden, die sie schlecht behandeln, denn der nächste Lebensgefährte entpuppte sich nach einer Phase verliebter Harmonie ebenfalls als jemand, mit dem man besser keine Beziehung führt. Allerdings treffen normale Menschen in solchen Fällen die vernünftige Entscheidung, sich von solchen Partnern so freundschaftlich wie möglich zu trennen. Dazu war sie leider nicht imstande. Vier Schüsse in den Kopf, die Leichenteile verschwanden in Eiswannen und einem Reisetrolley, und diese wiederum wanderten ebenfalls in den Keller des Eissalons.

Gibt es das Böse?

Gibt es das Böse? Natürlich. Sitze ich neben ihm? Nein. Dass diese Frau anders ist als ich und anders als die meisten Menschen, die ich kenne, steht fest. Aber niemand ist durch und durch böse, in niemandem wohnt nicht auch Gutes. Ebenso gibt es niemanden, der nur gut ist. Wir alle sind potenziell böse. Wir alle sind unter bestimmten Umständen imstande, Verbrechen zu begehen, die wir uns nicht zutrauen. Ich weiß, dass in mir Triebe und Gedanken sind, deren Realisierung mit dem Gesetzbuch nicht vereinbar wäre. Aber dass ich es weiß, unterscheidet mich vermutlich von den Menschen, die tatsächlich das ultimative Verbrechen begehen, einem anderen Menschen das Leben zu nehmen und damit ganze Familien zu zerstören.

Und das ist die Frage, die ich Esti stellen will. Sie wusste ja, dass in ihr etwas Böses steckt, sie schreibt über ihre Vernichtungsfantasien, über ihre hilflose stumme Wut, wenn sie wieder einmal von ihren Männern beschimpft wurde. Ich würde gern wissen, ob sie dieses Böse womöglich akzeptierte - als ein notwendiges Übel vielleicht oder gar als etwas, das ihrem anderen Ich, das sie für gut und für normal hielt, zu Hilfe kommen würde. Das möchte ich von ihr erfahren, aber die Gesprächssituation ist schwierig, ständig beobachten uns die Beamten, sie stehen ganz in der Nähe, ich weiß nicht, welche Frage ich in einer so beengten Situation überhaupt stellen darf, ohne die eine oder andere Eskalation heraufzubeschwören.

Unsere Arme berühren sich

Mich wundert, dass wir so nahe nebeneinander sitzen dürfen, dass unsere Arme sich berühren.

"Was passiert, wenn du jetzt in die Zelle zurückkehrst?"

"Ich muss mich nackt ausziehen und hinhocken. Es wird geprüft, ob ich nichts in meinen Körperöffnungen hineingeschmuggelt habe."

Dazu sage ich nichts. Schön klingt das nicht, es klingt demütigend. Aber ich verstehe nichts von Strafvollzug. Ich kann mir vorstellen, dass diese Art von Arbeit auch für die Beamten nicht angenehm ist. Ich habe keine Ahnung, was nötig ist, um ein Gefängnis zu führen. Wohl fühle ich mich hier nicht, in diesem schmucklosen Besuchsraum, weiß jedoch, dass ich gleich wieder rausdarf. Dass diese Möglichkeit verurteilten Mördern nicht gegeben ist, halte ich für richtig. Ich bin entschieden dafür, Schwerstkriminelle daran zu hindern, ihre einschlägige Laufbahn fortzusetzen. Ihre Gefängnisrealität zu sehen macht mich dennoch betroffen.

Ein Beamter tritt zu uns, die dreißig Minuten sind vorüber. Ich merke den Stich, den dieser Satz Esti versetzt. Sie hört ihn oft. Sie hat ein Besuchsguthaben von acht Stunden pro Monat. Wir verabschieden uns. Küsschen auf die Wange, rechts, links, ich bin verwirrt. Werden uns gleich die Beamten voneinander wegzerren, weil sie Kassiberschmuggel vermuten? Und ich, darf ich eine Mörderin mögen? Ich glaube, ich darf. Mir nahestehende Menschen haben im Weltkrieg Dinge getan, von denen ich nicht genau weiß, wie schlimm sie waren, ich werde es nie erfahren, ich weiß nur, ich mag diese Menschen sehr. Es ist nicht leicht zu urteilen. Es ist ungeheuer schwierig zu urteilen. Es gibt viele Wahrheiten. Ich hasse es zu urteilen. Über diese Frau will ich nicht urteilen. Dass sie entsetzliche Dinge getan hat, bestreitet niemand, auch sie nicht. Ich frage mich jedoch, wie viel von ihr in mir steckt.

In der Zelle sitzen

Wir verlassen den Besucherraum. Durch die Glasscheibe sehe ich sie, Estibaliz Carranza, die Doppelmörderin, am Tisch sitzen. Sie winkt mir. Ich steige jetzt ins Auto und fahre zurück nach Wien. Sie geht zurück in ihre Zelle, zieht sich aus und wird untersucht. Ich werde ein Bier trinken gehen, in meinem Stammlokal, das habe ich nötig. Ich werde nachdenken. Sie wird in ihrer Zelle sitzen. Und nachdenken. Sie hat viel Zeit dafür. Sehr viel Zeit.

Hannah Arendt schrieb: "Doch das wirklich Böse ist das, was bei uns sprachloses Entsetzen verursacht, wenn wir nichts anderes mehr sagen können als: Dies hätte nie geschehen dürfen. (...) Das größte begangene Böse ist das Böse, das von Niemandem getan wurde, das heißt, von menschlichen Wesen, die sich weigern, Personen zu sein."

Estibaliz Carranza ist eine Person. Glaube ich. (Thomas Glavinic, DER STANDARD, 22.11.2014)