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Gibt den Anführer der paramilitärischen Schützen in seinem fünften Profijahrzent souverän und frei von Verschleißerscheinungen: Ferruccio Furlanetto als Iwan Chowanski in der Staatsoper.


Foto: APA / Wiener Staatsoper / Michael Pöhn

Wien - Die Russen sind in Wien. Zwar leider weniger zum Geldausgeben im Goldenen Quartier, aber immerhin als Lieferant von EM-Qualifikationspunkten sowie, ebenfalls kämpfend und leidend, auf der Bühne der Wiener Staatsoper. Reibt sich Russland heute realpolitisch mit der westlichen Welt, so stritt es vor gut drei Jahrhunderten noch mit sich selbst. Modest Mussorgski hat im Libretto zu seiner unvollendeten Chowanschtschina politische und religiöse Machtkämpfe aus den zwei letzten Jahrzehnten des 17. Jahrhunderts zu einem "musikalischen Volksdrama" verdichtet.

Die innerrussischen Streitpunkte von damals ähneln den heutigen auf bestürzende Weise: Soll das Land in einer Westorientierung zu Fortschritt finden oder auf die Kraft des alten Russland bauen? Ist das Ziel der Führer das Wohl des Volkes oder nur der eigene Machterhalt?

Regisseur Lev Dodin erzählt Chowanschtschina auf eine äußerst monochrome und streng vertikal-zentralistische Weise. Neben Fürst Iwan Chowanski, dem konservativen Anführer der paramilitärischen Strelitzen (Schützen), neben dem deutschlandfreundlichen Fürst Golizyn, neben Schaklowity, einem Intimus der Zarewna Sofja Alexejewna, und Dossifei, dem Anführer der Altgläubigen, ist die Hebebühne des Hauses der fünfte mächtige Protagonist der Inszenierung.

Fast alle Auftritte finden nicht von der Seite oder von hinten, sondern von unten statt: Mehrere hintereinander gestaffelte, dreistöckige Galerien hieven die Mitwirkenden ins Licht der Aufmerksamkeit wie ein kreuzbewehrter Paternoster (Bühne: Alexander Borovskiy).

Auf diesen aus verkohlten Brettern zusammengezimmerten Altären der Autoritäten thronen und orgeln die Mächtigen meist mittig und auf den schnürbodennahen Etagen, das Fußvolk quetscht sich unten zusammen: Das illustriert das Eingesperrtsein und die Machtlosigkeit der Masse hervorragend. Nur schwingt sich das monotone Regiekonzept auch zum Alleinherrscher über das Stück auf und opfert für die Politik der streng hierarchischen Separierung aller Figuren fast jede Interaktion zwischen diesen und alle Szenenbilder gleich mit dazu.

Rache der Gedemütigten

Einige Bizarrerien der Choreografie (Yuri Vasilko) wirken wie Versuche, dem Publikum abseits der viereinhalbstündigen Fahrstuhlfahrerei doch noch Abwechslung zu bieten: eine Kopulationsgroteske im dritten Aufzug sowie das Ballett der persischen Sklavinnen im vierten. Diese entledigen sich ihrer Burkas und BHs - wenn das mal die IS nicht spitzkriegt. Immerhin wollen die Gedemütigten zur Rache auch gleich die ganze Welt abknallen. Die in Chowanskis Sohn Andrei verliebte strenggläubige Marfa inszeniert Dodin als Sexbombe und lässt sie mit ihrem Anführer Dossifei ins Bett gehen - als Vorspiel zum gemeinsamen finalen Feuertod.

Immerhin hat die unscheinbare, gesanglich etwas leichtgewichtige Elena Maximova als Marfa da den darstellerisch und sängerisch umwerfenden Ain Anger an ihrer Seite. Als Ensemblemitglied hat der gebürtige Este am Haus bis 2010 die kleinen, mittleren und größeren Bassbaritonpartien rauf- und runtergesungen; als Dossifei überragt und überstrahlt Anger nun alle seine Kollegen. Sein Bass ist kräftig wie ein Bär und doch nobel gefasst: ein Genuss. Hier kommt Premierenstimmung auf.

Ferruccio Furlanetto gibt den Iwan Chowanski zu Beginn seines fünften Profijahrzehnts souverän und fast frei von Verschleißerscheinungen, zuverlässig die Riege der Kollegen: Herbert Lippert als kampfeslustiger Golizyn, Andrzej Dobber als intriganter Schaklowitny, Christopher Ventris als impulsiver Andrei. Auf den Spuren Heinz Zedniks wandelt der wundervolle Norbert Ernst als Schreiber; prägnant Lydia Rathkolb als Susanna, eine Wucht Caroline Wenborne als Emma. Überwältigend geben der Chor der Wiener Staatsoper (Leitung: Thomas Lang) und der Slowakische Philharmonische Chor (Einstudierung: Jozef Chabron) Freud und Leid von Land und Volk Ausdruck.

Wie Claudio Abbado dies bei der Chowanschtschina-Erstproduktion am Haus 1989 getan hatte, wählte auch Semyon Bychkov die Fassung von Dimitri Schostakowitsch, jedoch nicht den leisen Schluss von Strawinski. Doch vor dem bombastischen Feuertod-Finale lässt der gebürtige Leningrader das ab dem zweiten Aufzug glänzende Staatsopernorchester in allen Farben erblühen, hält mit einer dynamisch-tänzerischen Dirigierweise die Dinge im Fluss.

Bravos und Begeisterung für alle Musiker, speziell für Anger, Ernst, Furlanetto und Bychkov; mit Verspätung traut sich Lev Dodin dann doch noch auf die Bühne, um dort in einem Meer an Buhs zu ertrinken. (Stefan Ender, DER STANDARD, 17.11.2014)