Am 16. November 1972 verabschiedete die Unesco das "Übereinkommen zum Schutz des Kultur- und Naturerbes der Welt". Im Juni 2014 hat diese Liste des Welterbes - trotz einiger Streichungen - erstmals die "magische Marke" von eintausend Einträgen überschritten: 1.007 Denkmäler in 161 Ländern stehen drauf, alleine Frankreich kann aktuell 39 Nennungen für sich verbuchen.

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Jede Aufnahme in das Register der Weltkulturerbestätten ist so etwas wie die Ruhm versprechende Teilnahme an einer touristischen Champions League. Das Unesco-Label ist für Städte und Stätten eine der wichtigsten Marken, mit dem vermutlich höchsten Markenwert der Welt. Doch spätestens seit man die Eintausender-Grenze passiert hat, scheint der inflationäre Gebrauch das Markerl nach und nach zu entwerten. Was die Unesco-Spreu vom Welterbe-Weizen trennt, sind mittlerweile wohl auch gute Geschichten, die ein Titular zu erzählen hat.

Die Erzählung zum Erbe

Eine sympathische Erzählung zu einem europäischen Welterbe steckt hinter der Entstehung der Place Stanislas in Nancy, die schon 1983 zusammen mit der angrenzenden Place de la Carrière und der Place d’Alliance in die Liste aufgenommen wurde. Denn die historische Hauptstadt des Herzogtums Lothringen hat den Titel ausgerechnet einem arbeitslos gewordenen polnischen König zu verdanken.

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Die Place Stanislas, die fließend in zwei weitere Plätze übergeht, gilt als Beispiel für gute Stadtplanung. Die Idee zur Gestaltung des Zentrums von Nancy stammt von einem polnischen König ohne Königreich

Dieses Schicksal traf 1734 Stanisław Leszczyński, der seinen Thron durch einen politischen Schacher der damaligen Großmächte Österreich, Russland und Kursachsen zugunsten von August III. aufgeben musste. Doch der polnische König verfiel dadurch nicht in Agonie, sondern hatte Glück und große Pläne. Sein Schwiegersohn, Frankreichs König Ludwig XV., stattete ihn mit dem Herzogtum Lothringen aus. Dazu bekam er ausreichend Mittel, um lebenslang seiner Leidenschaften zu frönen: dem Bauen.

Nancy wurde zur temporären Residenz des Königs ohne Königreich, und ist heute eines der ältesten und besten europäischen Beispiele für gelungene Stadtplanung. Denn Stanislas, wie er in Frankreich genannt wird, schien trotz barocker Bauwut durchaus zugänglich gewesen zu sein für die Bedürfnisse der Bewohner. Zwischen 1752 und 1756 entstand unter der Leitung des Architekten Léopold Emmanuel Héré de Corny ein Ensemble, das weit über ein royales Prestigeobjekt hinausging. Bis zu diesem Zeitpunkt waren die Alt- und Neustadt weitgehend voneinander getrennt, vor allem auch durch Befestigungswälle.

Königsplatz fürs Volk

Leszczyński ließ zwei Tore, die Portes Sainte-Catherine und Stanislas, anlegen und die Place Royale so umgestalten, dass ein besser zugängliches Zentrum entstand. Zwar wurde die so geschaffene Place Stanislas in erster Linie aus Dankbarkeit gegenüber dem großzügigen Schwiegersohn Ludwig XV. konzipiert, aber als erster französischer "Königsplatz" sollte dieser zugleich ein Ort für Volksfeste sein. Die Unesco-Auszeichnung kann man also auch als Usability-Preis sehen.

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Wenn sich die Dunkelheit wie ein Tuch über die Stadt gelegt hat und in festliches Licht getaucht ist, versucht man sich Leszczyński zwischen den Standeln vorzustellen. Tatsächlich steht er unübersehbar als Standbild in der Mitte seines Platzes, in voller Leibesfülle. Zeitgenossen nannten ihn auch den "Dicken".

Erstaunlich nur: Auch heuer wird Ende November wieder einer der größten Weihnachtsmärkte Frankreichs auf der Place Stanislas Stellung beziehen. Und das, obwohl die Unesco ja schon das Anbringen von unauthentischen Straßenschildern in einem Welterbe-Ensemble bekrittelt. Andererseits könnte man auch argumentieren, alles Volksfestartige war durchaus im Sinne des "Erfinders" dieser Unesco-Stätte.

Wenn sich die Dunkelheit wie ein Tuch über die Stadt gelegt hat und in festliches Licht getaucht ist, versucht man sich Leszczyński zwischen den Standeln vorzustellen. Tatsächlich steht er unübersehbar als Standbild in der Mitte seines Platzes, in voller Leibesfülle. Zeitgenossen nannten ihn auch den "Dicken". Denn neben dem Umgestalten eines unpraktischen Stadtkerns gehörte das Schlemmen zu seinen Lieblingsbeschäftigungen. Und da ist man natürlich heute noch in Nancy an einer der besten Adressen - sogar auf dem Weihnachtsmarkt. (Christoph Wendt, DER STANDARD, 15.11.2014)