Der Europäische Gerichtshof (EuGH) hat in einer emotional stark aufgeladenen Streitfrage der europäischen Politik eine kluge Entscheidung gefällt, die zur Versachlichung der Debatte beitragen sollte: Bürger anderer EU-Staaten dürfen überall in der Union arbeiten; aber wenn sie nur einreisen, um höhere Sozialleistungen in einem anderen Land in Anspruch zu nehmen, dann dürfen ihnen diese verweigert werden.

Die Angst vor Sozialtourismus in der EU hat sich bisher als wenig begründet erwiesen. Selbst Bürger aus den besonders armen Mitgliedsstaaten Rumänien und Bulgarien, die seit Jahresanfang die volle Freizügigkeit genießen, sind meist auf der Suche nach Arbeit ausgewandert, nicht nach Sozialhilfe. Aber Fälle wie jener der arbeitslosen Rumänin in Leipzig, gegen deren Hartz-IV-Antrag der EuGH nun entschieden hat, verstärken in der Bevölkerung eine weitverbreitete Sorge, dass das EU-Grundrecht auf Freizügigkeit eine Überfremdung verursacht, die die eigene Heimat verändern und letztlich zerstören könnte.

Vieles wird hier vermischt - etwa die Flüchtlinge aus den Konfliktregionen rund um Europa mit den jungen Aufsteigern aus neuen Mitgliedsstaaten. "Sie nehmen uns die Arbeitsplätze weg" hört man genauso oft wie "Sie wollen gar nicht arbeiten" - dabei schließt das eine das andere aus. Aber eines ist unbestritten: Das Unbehagen über die unkontrollierte Einwanderung fördert jenen antieuropäischen Populismus, der in Gestalt von Marine Le Pen, Nigel Farage und auch Heinz-Christian Strache das gesamte Projekt EU bedroht.

Deshalb müssen Gesetzgeber, die Kommission und die Gerichte bei der Freizügigkeit gewisse Grenzen ziehen. Die EU mit ihren unterschiedlichen Kulturen und ihrem großen Wohlstandsgefälle ist kein Nationalstaat wie die USA, wo jeder neue Nachbar automatisch als Amerikaner gesehen wird.

Die schon lange von den meisten Staaten angewandte Formel, die nun vom EuGH bestätigt wurde, lautet: Arbeiten darf jeder Unionsbürger überall, da kann es keine Grenzen geben. Auch Studienplätze dürfen nur in Ausnahmefälle für eigene Bürger reserviert werden, wie an Österreichs Unis zu sehen ist. Doch die meisten Sozialleistungen bleiben ein Vorrecht für die eigenen Bürger, zumindest solange Zuwanderer nicht selbst in den Beitragstopf einzahlen.

Entscheidend ist, dass der offene Arbeitsmarkt nicht einem Anti-EU-Backlash zum Opfer fällt, wie die jüngsten Forderungen des britischen Premiers David Cameron schon fürchten ließen. Tatsächlich wird das EuGH-Urteil in Großbritannien positiv aufgenommen und könnte dem Ruf nach weitergehenden Einschränkungen den Wind aus den Segeln nehmen.

Denn die Arbeitsmigration innerhalb der EU ist grundsätzlich positiv. Wie zahlreiche Studien zeigen, erhöht sie das Wachstum und schafft dadurch mehr Jobs. Sie gibt den Einzelnen bessere Chancen und lässt Europa zusammenwachsen. Und Zuwanderer, die arbeiten, werden von den Einheimischen viel eher akzeptiert.

Es wäre daher zu wünschen, dass der Geist des EuGH-Urteils auch in der europäischen Flüchtlingspolitik Eingang findet. Wenn Asylwerber Zugang zum Arbeitsmarkt hätten, würden sie genauso davon profitieren wie die übrige Bevölkerung. Denn die Flüchtlingsströme nach Europa lassen sich nicht stoppen. Doch zumindest das Nichtstun sollte bei Zuwanderern weder erzwungen noch gefördert werden. (Eric Frey, DER STANDARD, 12.11.2014)