"Österreich ist ein Kinoland, Deutschland ein Fernsehland": der Dokumentarfilmemacher Thomas Heise.

Foto: Lisa Rastl, © Akademie der bildenden Künste Wien

Berlin - Das Treffen mit Thomas Heise, dem das Filmmuseum eine große Retrospektive widmet, kann erst abends stattfinden - tagsüber wird geschnitten an der allerneuesten Arbeit. Diese heißt Fabrik und porträtiert die Berliner Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz. Ein Geburtstagsauftragsgeschenk, das Haus wird hundert und feiert im Dezember.

STANDARD: Kam die Anfrage für die Arbeit über die Volksbühne durch Intendant Frank Castorf? Sie sind doch fast gleichalt und beide Ostberliner.

Heise: Aber wir kennen uns eigentlich gar nicht. Ich weiß, dass er meine Filme gesehen hat und gut findet. Das Erste, was ich von ihm gesehen habe, war Der Bau in den Achtzigerjahren in Karl-Marx-Stadt. Wir sind eher über große Distanz miteinander bekannt, eine Spezialität des Ostens: Man hatte persönlich nicht miteinander zu tun, war aber trotzdem informiert, was der andere so macht. Das ist in Österreich übrigens auch so. Weil es so wenig Leute sind. Dadurch ist der Bereich derer, die mit Kunst arbeiten, relativ klein. Man weiß, wer was treibt.

STANDARD: Sie sind seit einem Jahr Professor an der Akademie der bildenden Künste in Wien, vorher waren Sie in Karlsruhe an der Hochschule für Gestaltung. Gibt es Ähnlichkeiten?

Heise: Österreich ist ein Land mit einer Filmkultur, ein Kinoland. Die Leute sind cinephil. Das ist für mich unglaublich, eine Utopie. Karlsruhe hat dagegen damit zu tun, dass Deutschland ein Fernsehland ist.

STANDARD: Was heißt das?

Heise: Dass es in Österreich eine andere Förderstruktur gibt. In Deutschland wird fast kein Film gefördert, wenn nicht ein Fernsehsender mit dabei ist. Das ist der Abgrund. Normalerweise müsste das Fernsehen aus der Filmförderung raus, das sind zwei verschiedene Bereiche. Es wird gefördert, und dann darf das Fernsehen fertige Filme ankaufen. Das hat zur Folge, dass Dokumentarfilme aussehen wie Industrieprodukte.

STANDARD: Sie selbst drehen seit einigen Jahren digital.

Heise: Der Film wird aber wieder zurückkommen. Schon wegen der Haltbarkeit. Das Wiener Filmmuseum hat mir angeboten, Haus und Volkspolizei zu übernehmen und eine Kopie zu ziehen. Der Gedanke ist völlig richtig: Du musst re-analogisieren, was du aufbewahren willst. Der Ausländer, den Heiner-Müller-Film, haben wir schon ausbelichtet auf 35 mm: zwei Schwarz-Weiß-Kopien und das Negativ. Das ist der einzige Müller-Film, den's in fünfzig Jahren noch geben wird.

STANDARD: Wenn Sie sagen, in Wien herrsche eine andere Kinokultur - zeigt sich das auch bei den Studierenden?

Heise: Die sind cinephil, wobei das mitunter abenteuerliche Formen annimmt. Die schauen sich überall Sachen an, aber davon bleibt dann viel psychologischer Kunstsprech übrig, was mir ungemein auf die Nerven geht. Wenn du einen Film machst, musst du auch konkret drüber reden können und nicht nur abstrakt.

STANDARD: Wie vermitteln Sie das den Studierenden?

Heise: Indem ich sie zwinge, sich in eine Situation zu begeben, die sie nicht kennen: Ich möchte, dass ihr mit einer Rolle 16-mm-Film ein Porträt herstellt von einer Person, die ihr noch nie gesehen habt und die aus dem Bereich des Personals kommt. Und dann diskutierst du mit denen zwei Monate lang, was Personal ist. Da kommt jemand mit einer Näherin. Die ist aber selbstständig. Geht nicht.

STANDARD: Wieso ist es so wichtig, dass es sich um Angestellte handelt?

Heise: Weil das ein anderes soziales Feld ist. Ich bin aufgewachsen in einem Umfeld, in dem alle sozialen Schichten in einer Schulklasse waren, die Ministertochter und der Kohlenhändlersohn. Das gibt's heute nicht mehr. Die Leute sind sortiert nach Gehaltsgruppen. Es gibt ein paar Ausnahmen, aber dass soziale Durchmischung nur noch von wenigen erfahren wird, ist ein Verlust. Die Sichtweise wird einseitig.

STANDARD: Wie reagieren die Studierenden?

Heise: Ich mache immer ein Kennenlernen am Anfang, alle sollen sagen, was sie im Moment beschäftigt. Nicht: "Ich möchte gerne, dass ...", sondern: "Zurzeit ist mein Problem ...". Und da kamen diesmal nur Familiengeschichten. Das heißt, ich muss mir etwas einfallen lassen.

STANDARD: Warum?

Heise: Wenn man sich Festivals anschaut, handelt ein großer Teil der Filme von der eigenen Familie. Das ist kein Problem, wenn das keine Filmemacher sind. Aber wenn die Leute das beruflich machen, geht Familie nicht. Ich finde, man muss erst mal nach außen gehen, um das Innen überhaupt zu dürfen, einfach aus Verantwortung. Man muss sich trennen, um etwas zu begreifen.

STANDARD: Was ist Ihr nächstes Filmprojekt?

Heise: Das klingt jetzt vielleicht komisch: eine Familiengeschichte. Vielleicht bin ich bei dem Thema auch übersensibel, weil ich davon keine Ahnung habe. Ich kann mit Verwandtschaft nicht viel anfangen, weiß gar nicht, was das ist. Nicht, dass ich unter dem Verhältnis zu meinen Eltern gelitten hätte oder das psychologisieren will. Es ist einfach so. Jetzt interessiert es mich, diese Leute kennenzulernen. Ein Teil der Familie ist umgekommen, der andere ist über die Welt verteilt. Die Geschichte hat auch mit Wien zu tun.

STANDARD: Inwiefern?

Heise: Meine Großmutter hat von hier nach Berlin geheiratet, als Jüdin einen Berliner Kommunisten. Die sächsische Großmutter war wiederum bei Willi Münzenberg angestellt, ein Onkel bei der Gestapo. Ich habe da eine Recherche vor mir. Ich komme von draußen, ich muss mir erarbeiten, wie das war. In diesem Jahr ist meine Mutter gestorben, jetzt habe ich die ganzen Sachen, die natürlich keinen interessieren, wenn man die nicht interpretiert. Berge von Briefen. Die letzte Postkarte einer Freundin meiner Großmutter zum Beispiel: "Ich reise heute." Die ist auf dem Transport ins Lager noch in den Postkasten gelangt. Was ist mit der? Ich will nicht, dass das verschwindet. Auch wenn der Film Verschwinden heißt, weil mich das Verschwinden interessiert als Vorgang. (Matthias Dell, DER STANDARD, 8./9.11.2014)