Das liegt nicht nur an fliegenden Scampi und speicheltreibenden Himbeeren, die vom Himmel fallen.

"Ich habe schon immer von so einer Markthalle, von so einem Stand geträumt", sagt Bart Gijsbers. "Bislang kannte ich solche Hallen nur aus Barcelona, Valencia oder Turin, also vor allem aus südlichen Ländern. Ich finde es toll, dass dieses Stück Lebensgenuss nun auch nach Rotterdam kommt." Der 22-Jährige nennt sich "Monsieur Saucisson" und ist spezialisiert auf den Verkauf selbstgemachter Würste aus Esel-, Straußen-, Springbockfleisch, verfeinert mit Cognac, Oliven und eingelegten Maronen.

Gijsbers ist einer von 96 Neomarktstandlern, die nach vielen Jahren auf der Straße, von einer Stadt in die nächste ziehend, ihre Ware nun erstmals unter einem Dach feilbieten. Und unter was für einem! Vom 40 Meter hohen Gewölbe scheint es Trauben, Beeren, Brokkoli, resche französische Baguettes und allerlei Meeresgetier auf die Köpfe der Marktflaneure zu hageln. In fast schon beängstigender Größe klammern sich Marienkäfer, Schmetterlinge und eine drei Stockwerke hohe Schnecke an die Grashalme.

Foto: MVRDV

Das Konzept für das psychedelische Gewölbe namens "The horn of plenty" (Füllhorn) stammt von den beiden Künstlern Arno Coenen und Iris Roskam. "Wir haben uns vorgestellt, wie es ist, auf einem LSD-Trip durch eine Biene-Maja-Wiese zu spazieren, während der Überfluss von Mutter Natur auf uns hinunterprasselt." Erstellt wurde das 11.000 Quadratmeter große Kunstwerk, angeblich die größte bildliche Darstellung der Welt, in einem 3-D-Programm. Auf Renderfarmen in Frankreich und Neuseeland musste das 400 Milliarden große Pixelbild errechnet und visualisiert werden.

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Wohnhaus und Markthalle

Die visuelle und konsumatorische Füllhornmenge der neuen "Markthal", die vor wenigen Wochen in Rotterdam-Blaak, direkt am Ausgang von U-Bahn und Regionalbahnhof, eröffnet wurde, ist jedoch nur ein Aspekt von vielen. Weitaus ungewöhnlicher ist der Multifunktionsmix dieses bereits vor zehn Jahren EU-weit ausgeschriebenen Multiuse-Projekts. "Der Wettbewerb sah vor, Wohnhaus und Markthalle in einem Ensemble zu kombinieren", erinnert sich Winy Maas vom siegreichen Rotterdamer Büro MVRDV. "Wir wollten die Funktionen nicht nebeneinanderstellen, sondern dachten uns: Warum gruppieren wir die Wohnungen nicht gleich so, dass wir uns die Konstruktion der Markthalle sparen?"

Das Resultat dieser statisch und auch betriebswirtschaftlich kühnen Überlegung ist eine 114 Meter lange, 70 Meter breite und mehr als 40 Meter hohe Rolle, in deren Inneren sich der vielleicht bunteste öffentliche Freiraum Europas befindet. Möglich gemacht wurde diese Melange, indem das 100.000 Quadratmeter große Projekt auf mehrere Eigentümer und Investoren aliquot aufgesplittet wurde.

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Während die Stadt Rotterdam mit einem eigenen Tochterunternehmen die mit 1200 Stellplätzen größte Tiefgarage der Stadt verwaltet, kümmert sich ein Betreiber um die Markthalle, ein anderer um die Indoor-Shops und den Anchor-Supermarkt im Tiefgeschoß, ein weiterer um den Verkauf der 150 Eigentumswohnungen und Penthouses und wiederum ein anderer um die Vermietung der 102 Mietwohnungen. Letztere sind bereits zur Gänze vermietet, der Anteil der verkauften Wohnungen (ab 2500 Euro pro Quadratmeter) hält aktuell bei rund 60 Prozent.

"Das Projekt-Management war sehr komplex, und wir mussten lange Zeit verhandeln, bis wir einen Verwertungs- und Investitionsschlüssel gefunden haben, der für alle Beteiligten passt", erklärt W. J. Walther van Leeuwe, Office-Manager beim Den Haager Immobilienentwickler Provast, im Gespräch mit dem Standard. "Aber es hat sich ausgezahlt. Und ich wage zu behaupten: Indem wir die Verantwortung und das wirtschaftliche Risiko auf mehrere Investoren aufgeteilt haben, ist es gelungen, das Projekt auch über die große Immobilienkrise hinüberzuretten."

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Geteiltes Risiko

Viel wird über Multifunktionalität gesprochen. Meist scheitert dieser im Grunde genommen von allen befürwortete Ansatz jedoch daran, dass dies auf Kosten des Betreibers geht, weil sich dieser aus seiner eigentlichen Komfort- und Kompetenzzone hinausbewegt. Und plötzlich ist ein gemeinnütziger Wohnbauträger damit konfrontiert, gewerbliche Flächen vermieten zu müssen. Wer will dieses Risiko schon eingehen?

"Wenn man einen städtischen Mix will, dann muss man sich auch das Risiko teilen, dann funktioniert das nur, wenn man ein 100.000 Quadratmeter großes Projekt in lauter Hunderttausendstel aufteilt und diese Hunderttausendstel dann vom jeweiligen Verantwortlichen marktfit machen lässt", meint Architekt Winy Maas. "Ich denke, dass wir bei diesem Projekt viel gelernt haben. Das gewonnene Know-how möchten wir nun auch auf künftige Stadtverdichtungsprojekte anwenden."

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Gelegenheiten dazu wird es genügend geben. Bis 2040 hat sich die Stadtregierung zum Ziel gesetzt, die innerstädtische Bevölkerung zu verdoppeln. Die 175 Millionen Euro teure Markthal ist daher nur als ein erstes Puzzlestück unter vielen noch zu erwartenden zu verstehen. Von diesem Mut zur permanenten Neuerfindung, mit der sich die Stadt nach der Zerstörung im Zweiten Weltkrieg so etwas wie eine eigene Daseinsberechtigung gab, kann sich auch Österreich etwas abschauen. Mit dem Projekt Markthal ist das gelungen, wovon man hierzulande nur spricht - urbaner Mix, städtische Vielfalt. (Wojciech Czaja aus Rotterdam, DER STANDARD, 31.10.2014)

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