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Ein Musikautomat in Putin-Optik: Das Werk des französischen Künstlers Christian Bailly zeigt den Präsidenten bei der Unterzeichnung des Vertrags zur Aufnahme der Krim in die Russische Föderation.

Foto: REUTERS/Wolfgang Rattay

Dass der Bürgerkrieg in der Ukraine das Land zerfrisst wie eine Krebserkrankung, haben bereits viele politische Beobachter erkannt. Dass aber eine Krebserkrankung auch daran schuld sein soll - mit dieser These steht Richard Johnson von der "New York Post" ziemlich allein da. Ein Bauchspeicheldrüsenkrebs treibe Russlands Staatschef Wladimir Putin in der Ukraine zur Eile an, behauptet Johnson. Mit der Vergrößerung Russlands wolle er ein Vermächtnis hinterlassen.

"Zeitungen von Weißrussland bis Polen berichten seit Monaten, dass der starke Mann Russlands Wirbelsäulenkrebs hat. Aber meine Quellen sagen, es ist Bauchspeicheldrüsenkrebs", schreibt der Autor. Nun ist die "New York Post" ein Boulevardblatt und Johnson ihr Redakteur für Promi-Geschichten aus New York und Los Angeles. Seine "Exklusivinformationen" sind daher mit einer gehörigen Portion Vorsicht zu genießen.

"Dass Ihnen die Zunge verdorre"

Trotzdem rief die Geschichte ein gewaltiges Echo in Ost und West hervor. Putins Sprecher Dmitri Peskow sah sich sogar genötigt, ein Dementi herauszugeben. "Darauf können Sie lange warten. Dass Ihnen die Zunge verdorre", kommentierte er die Gerüchte über die schwere Krankheit.

Das westliche Medieninteresse ist logisch, da es sich bei Putin um einen der mächtigsten Männer der Welt handelt, der auch in der Ukraine-Krise eine Hauptrolle spielt. Das kremlnahe Medium "Odnako" sah darin zudem auch noch einen Beweis dafür, dass Russland die Schachpartie um die Ukraine gewinne: Wenn die imperialistische West-Journaille Putin totschreibe, sei Russland auf der Siegerstraße, so der Autor Roman Nosikow.

Verschlusssache Krankenakte

Dass der Kreml allerdings so vehement reagiert, hat auch noch einen anderen Grund: In Russland ist aufgrund der "Vertikale der Macht" alles auf den Kremlchef zugeschnitten. Ist dieser nicht handlungsfähig, so ist es auch Russland nicht. Das zeigte sich eindrücklich Anfang der 80er-Jahre, als drei hintereinander dahinsiechende Staatschefs – Leonid Breschnew, Juri Andropow und Konstantion Tschernenko – zum Symbol der sowjetischen Stagnation und des Untergangs wurden.

Kein Geheimnis wird daher stärker gehütet als die Krankenakte des Kremlchefs. Gerade Putin pflegt das Image des sportlichen und kerngesunden Regenten – auch in bewusster Abgrenzung zu seinem Vorgänger Boris Jelzin. Offiziell hat Putin noch keinen einzigen Tag seiner drei Amtszeiten wegen Krankheit gefehlt. Als allerdings im Herbst 2012 Putin in der Öffentlichkeit zu hinken begann, seine zuvor ausgeprägte Reisetätigkeit einstellte und mehrere Staatstermine ausfallen ließ, sprossen die Spekulationen aus dem Boden wie Pilze nach dem Regen.

Ein Körnchen Wahrheit

Was Peskow als leichte Muskelzerrung abtat, soll ein ernstes Rückenleiden gewesen sein, das Russlands Präsidenten damals für Monate außer Gefecht setzte. Die Folge waren dem Vernehmen nach heftige interne Grabenkämpfe am Zarenhof zwischen den rivalisierenden Machtblöcken, die nur durch Putin zusammengehalten werden. Zwei gefeuerte Minister und öffentlich gemachte Korruptionsskandale auf der höchsten Führungsebene waren das Resultat – ein für die Putin-Ära beispielloses Aufwirbeln des inneren Machtzirkels.

Für Russland endete die Krise ohne größeren Schaden. Zum Jahresende war Putin wieder auf dem Dampfer und der Konflikt innerhalb der russischen Elite vorerst beseitigt. Doch im Kreml weiß man auch: Unter der Oberfläche brodeln die Konflikte weiter. Jedes Zeichen von Schwäche könnte einen neuen Machtkampf produzieren, dessen Folgen sich nur schwer voraussagen lassen. Darum ist bei Putin natürlich "alles in Ordnung", wenn man seinen Pressesprecher fragt. (André Ballin aus Moskau, DER STANDARD, 31.10./1./2.11.2014)