Auch wenn sich der politische Übergangsprozess seit dem Sturz von Präsident Zine El Abidine Ben Ali im Jahr 2011 viel schwieriger gestaltet als damals prognostiziert, so bleibt Tunesien doch der Lichtblick unter den Ländern des ehemaligen Arabischen Frühlings: und zwar der einzige. Denn es ist nicht abzusehen, dass ihm in der nächsten Zukunft ein anderes Land auf dem - auch in Tunesien noch nicht abgesicherten - demokratischen Weg folgen wird.

Tunesien wird hoffentlich zum Modell: Es beweist, dass ein indigener demokratischer Prozess in einem arabischen Land möglich ist, dass eine islamische Partei einen Konsens mittragen - etwa bei der Verfassungsschreibung - und, wie jetzt, eine Wahlniederlage akzeptieren kann. Nicht dass Ennahda, die die ersten Wahlen 2011 gewann, die Lektionen leicht lernte. Außer innenpolitischem Widerstand gegen ihren Drang zur Macht - und da half die Existenz des traditionell starken linken Sektors in Tunesien - kam ein wichtiger, wenngleich negativer Impuls von außen: die Gegenrevolution von Abdelfattah al-Sisi im Juli 2013 in Ägypten. Einen durch Unzufriedenheit der Mehrheitsbevölkerung verstärkten revisionistischen Reflex, der in Kairo die Muslimbrüder mit Gewalt hinwegfegte, wollte Ennahda nicht riskieren, auch wenn die Rolle der tunesischen Armee mit der ägyptischen nicht vergleichbar ist.

Noch ein Faktum hat Tunesien geholfen: Es ist klein, und was das Land für andere strategisch interessant macht, ist gerade seine Stabilität zwischen dem versteinerten Algerien, wo vor wenigen Monaten ein praktisch amtsunfähiger Präsident wiedergewählt wurde, und dem im Chaos versinkenden Libyen. Das heißt, auch äußere Akteure haben ein gemeinsames Interesse, und das unterscheidet Tunesien vielleicht am meisten von allen anderen Ländern, in denen Revolten stattgefunden haben.

Dennoch ist der Weg, der vor der Demokratie Tunesien liegt, lang und steinig. Ennahda bleibt, auch wenn sie hinter der säkularen Nidaa Tounes von Beji Caid Essebsi liegt, eine wichtige politische Kraft. Essebsi, der gerade durch sein hohes Alter die von vielen Tunesiern und Tunesierinnen gewünschte Kontinuität zum Modernisierer Habib Bourguiba darstellt (den 1987 Ben Ali stürzte), wird wahrscheinlich der nächste Staatspräsident. Möglichen Partnern - allen voran Saudi-Arabien, das Tunesien für sein wirtschaftliches Wiederaufkommen gut braucht - würde gefallen, dass Nidaa Tounes mit ihrem starken Ancien-Régime-Element die den Muslimbrüdern verwandte Ennahda politisch völlig zurückdrängt. Dennoch wird nach den Präsidentschaftswahlen eine tragbare Formel für eine Zusammenarbeit der stärksten Kräfte gefunden werden müssen.

Eine Herausforderung bleibt der radikale salafistische und jihadistische Sektor: Der "Islamische Staat" (IS) hat aus Tunesien starken Zulauf. Tunesien ist leider auch ein Beispiel dafür, dass der Einstieg moderater Islamisten in die Politik die Extremisten nicht entscheidend schwächt. Für die Extremisten ist Ennahda eine westliche Marionette, und Ennahda weigerte sich - gerade wegen dieses Stigmas - jahrelang, sich mit dem Problem auseinanderzusetzen. Kann sich noch jemand an die nach dem Sturz Ben Alis verbreitete Meinung erinnern, in Tunesien gebe es überhaupt keine Islamisten? Es gibt sie, aber 2014 immerhin in redimensionierter Form. (Gudrun Harrer, DER STANDARD, 29.10.2014)