Am Balkon des Wiener Landesgerichts versammelt: Präsident Friedrich Forsthuber (li.) und die Theatermacher der Gruppe werk89: Simon Hajós, Suse Lichtenberger und Melika Ramic (v. re.).

Foto: Andy Urban

Wien - Gerichtsprozesse und Theateraufführungen haben Ähnlichkeiten; an beiden "Schaustätten" wird zu (moralischen) Urteilen aufgerufen: Heinrich von Kleists Der zerbrochne Krug dient der Wahrheitsfindung vor einem Dorfgericht; Elfriede Jelinek befasste sich in ihrem jüngsten Stück mit dem NSU-Prozess in München (Das schweigende Mädchen), und Hamlet hat bei den jüngsten Wiener Festwochen als Justizfall mit Publikumsbeteiligung Furore gemacht.

Die Theatergruppe werk89 zeigt ab Mittwoch (19.30 Uhr) im Großen Schwurgerichtssaal des Landesgerichts ein Stück, in dem - angelehnt an die Widerstandsgruppe "Die weiße Rose" - die Zivilcourage einer Jusstudentin auf die Probe gestellt wird: Name: Sophie Scholl (empfohlen ab 15 Jahren) von Rike Reiniger.

STANDARD: Es gibt eine Affinität zwischen Theater und Gericht. Einerseits das Bestreben nach Konfliktlösung, aber auch äußerlich durch Kostüme, Rituale des Sprechens und Handelns. Was ist der kleinste gemeinsame Nenner?

Friedrich Forsthuber: Das sind menschliche Schicksale. Menschen werden beide Male zum Nachdenken über diese Schicksale und die damit einhergehenden Urteile angeregt.

Melika Ramic: Auch die Bühne, die Podeste und die jeweiligen "Requisiten" sind eine Gemeinsamkeit. Der juristische Prozess hat einen klaren dramaturgischen Ablauf, es gibt unterschiedliche Rollen.

Simon Hajós: Es ist vor allem dieser Formalaspekt der Inszenierung, der sowohl dem Theater wie dem Gericht zugrunde liegt. Richter, Angeklagter, bis hin zu den Geschworenen haben zugeordnete Rollen.

STANDARD: Herr Präsident, Sie haben erneut ein Theaterstück in das Gericht geholt. Warum?

Forsthuber: Das Landesgericht ist eine wichtige Landmark der österreichischen Justizgeschichte, und da sehe ich es als meine Aufgabe, auch Öffentlichkeitsarbeit zu machen. Die Geschichte lehrt uns, wie wichtig es ist, unabhängige Richter zu haben. Name: Sophie Scholl passt sehr gut hierher. Es zeigt, in welche Gewissenskonflikte man (in einer Diktatur) getrieben wird, wenn man nicht mehr mitmachen will.

STANDARD: Warum haben Sie sich als Theatergruppe für einen Gerichtssaal als Bühne entschieden?

Ramic: Der Raum hat Geschichte, er erzählt viel, und er ist sehr beeindruckend. Wir wollen den Zuschauern die damit verbundene Atmosphäre erschließen.

Suse Lichtenberger: Der Saal ist historisch besetzt, aber zugleich ein "lebender" Gerichtssaal, ein Raum, wo ganz real Recht gesprochen wird (z. B. Bawag-, Strasser-Verfahren, Anm.). Dieses Bild einer jungen Frau in ihrer Not tritt mit der Opulenz des Raumes erst richtig hervor.

Hajós: Man kann diesen bedeutungsschweren Raum aber auch gut aufmachen, um Szenen zu zeigen, die nicht im Gericht spielen.

STANDARD: Demokratie und Theater entstanden bezeichnenderweise am selben Ort. Im antiken griechischen Theater wurden Masken verwendet, um Typen zu verkörpern. Auch im Gericht gibt es Perücken, Talare, eine fixe Personnage, auch eine formalisierte Sprechweise wie zum Beispiel die Anrede "Hoher Rat". Warum ist das so theatralisch?

Forsthuber: Es geht um die Deutlichmachung der jeweiligen Funktionen. Wichtig ist auch die damit deklarierte Ernsthaftigkeit, die nach außen signalisiert werden soll. Zu 99,5 Prozent sind Strafprozesse nämlich öffentlich. Das wissen viele nicht. Die Teilnahme der Öffentlichkeit ist wichtig.

STANDARD: Wie hoch ist denn die Auslastung?

Forsthuber: Das ist sehr unterschiedlich und hängt von der medialen Vorberichterstattung und der Tragweite des Streitfalls ab. Die meisten Prozesse sind nicht so gut besucht. Aber Besuche von Schulklassen nehmen zu, was mich sehr freut. Manchmal kann das auch präventive Wirkung haben. Man kann sehen, was mit einem Jugendlichen passiert, der ein Handy gestohlen hat.

STANDARD: Am Theater übernimmt das Publikum die Rolle des Richters?

Ramic: Ja, das finde ich schon. Wobei wir hier bei Name: Sophie Scholl ein klares Ende haben. Wir versuchen allerdings, im Verlauf des Stückes die Prozesse der Meinungsbildung nachzuzeichnen.

Lichtenberger: Der Prozess an sich kommt im Stück ja nicht vor. Zeitpunkt ist kurz vor Beginn des Prozesses.

Forsthuber: Interessant war bei den diesjährigen Festwochen das Stück Please, Continue (Hamlet), bei dem der Shakespeare-Stoff als Gerichtsprozess inszeniert war, und das Publikum bei der Vorstellung das Urteil sprechen musste.

STANDARD: Die Urteile waren je nach Aufführung unterschiedlich. Hamlet wurde sowohl für schuldig wie unschuldig befunden.

Forsthuber: In Wien gab es nur Freisprüche, auch wenn dem Titelhelden einmal eine gewisse "Fahrlässigkeit" angelastet wurde.

STANDARD: Wie hätten Sie bei "Hamlet" entschieden?

Forsthuber: Rein juristisch gesehen ist dieser Prozess nicht zu gewinnen: Ein Mann, der noch dazu ein Motiv hat, sticht in einen Vorhang, um eine dort laufende Ratte zu töten? Wer glaubt denn sowas? Offenbar alle! Dieser Schauspieler war sehr gut! Das ist auch immer die Gefahr bei Geschworenenprozessen, die oft von Sympathien und Antipathien geleitet werden.

STANDARD: Vieles hängt von der Performance der Verteidiger ab. Wie lernt denn ein Jurist sprechen - gibt es Parallelen zum Schauspielstudium?

Forsthuber: Jeder zukünftige Jurist sollte ein Interesse und eine Begabung für Sprache mitbringen. Es gibt gewisse Naturtalente, das gilt für Staatsanwälte wie Verteidiger.

Hajós: Das gilt ebenso für Schauspieler!

Ramic: In unserem Stück geht es ja um eine Jusstudentin, die selbst als Zeugin vor Gericht geladen ist. Die Autorin Rike Reiniger ist Deutsche und deshalb kommt vor allem der deutsche Ausbildungsweg vor.

Forsthuber: Die Crux am deutschen Ausbildungssystem ist das Punktesystem. Dadurch werden Streber gefördert und leider womöglich nicht diejenigen, die mit beiden Beinen in Leben stehen und schon was erlebt haben.

STANDARD: Wie am Theater: Man sollte Erfahrung haben, um von existenziellen Problemen erzählen zu können.

Ramic und Lichtenberger: Ja, unbedingt.

Hajós: Es geht im Stück aber nicht um die deutsche Jus-Ausbildung, sondern generell um ein juristisches System.

Forsthuber: Was mich auch immer irritiert, ist die fehlende Zivilcourage bei jungen Rechtspraktikanten. Sie sprechen Missstände bei Ausbildungsrichtern nicht an, weil sie fürchten, dies könnte sich nachteilig für die Karriere auswirken. Das ist doch erschütternd! Gerade für jemanden, der in Zukunft Recht sprechen möchte.

Ramic: Es sollten also auch Rechtspraktikanten zum Stück kommen! (Margarete Affenzeller, DER STANDARD, 28.10.2014)