Taiwans Präsident Ma Ying-jeou (auf der Videoleinwand) feiert vor Anhängern, Soldaten und Pfadfindern den Nationalfeiertag der Republik China. Seine Annäherungspolitik hat auf der Insel allerdings nicht nur Freunde.

Foto: Manuel Escher

Taipeh gilt - im Vergleich mit anderen asiatischen Metropolen - als relativ grüne Stadt: Es gibt Parks; der Smog, der manchmal vom chinesischen Festland herüberweht, ist meist nicht so schlimm. Gelegentlich sind aus dem Beton- und Neonzeichendschungel sogar die umliegenden Berge zu sehen. Besonders häufig sieht man aber die Sonne, wenn auch in ungewohnter Form: Weiß und auf blauem Grund ziert sie das linke obere Viertel der taiwanesischen Flagge, die auch lange nach dem Nationalfeiertag am 10. Oktober noch tausendfach an den Seiten- und Mittelstreifen der Hauptverkehrsstraßen platziert ist.

Die Banner sind auch Symbol für die Zwickmühle, in der sich die Politik auf der Insel befindet: Sie stehen für die 1911 auf Chinas Festland gegründete Republik China - ein Zeichen der Kontinuität nach der Flucht der von der Kuomintang-Partei (KMT) geführten Regierung (und mehrerer Millionen ihrer Anhänger) vor den Kommunisten im Jahr 1949. Für einige Festland-Oppositionelle gilt sie auch als Signal dafür, dass eine lebhafte demokratische Gesellschaft in Ländern mit ethnisch-chinesischer Bevölkerungsmehrheit möglich ist.

Zur Mäßigung genötigt

Anhänger von Taiwans Oppositionspartei DPP, die ihre Basis vorrangig unter den ursprünglichen Einwohnern Taiwans hat, sehen das anders. Denn nicht zuletzt ist die weiße Sonne auf blauem Grund auch das Symbol ihres Gegners: Der KMT, die nach Jahrzehnten autoritärer Herrschaft des "Generalissimo" Tschiang Kai-schek und seiner Nachfolger nur zwischen 2000 und 2008 nicht regiert hat und sich erst in den 1990er-Jahren demokratisierte. Anders als die KMT sehen sie nicht die Wiedervereinigung der Insel mit dem Festland als Fernziel, sondern die Unabhängigkeit.

Die meisten Einwohner hängen zwar einer der beiden Seiten an, sind in ihren realpolitischen Zielen aber gemäßigter: "Rund 80 bis 85 Prozent sind für eine Beibehaltung des Status quo", heißt es bei einem Besuch in der Umfrageabteilung des Medienhauses Commonwealth Publishing Group.

Theorie und Praxis

Dem müssen die Politiker Rechnung tragen. Sowohl DPP-Präsident Chen Shui-bian (2000-2008) als auch der amtierende KMT-Präsident Ma Ying-jeou versprachen: keine Unabhängigkeit, keine Vereinigung. In der Praxis gab es Unterschiede: Chen, mittlerweile nach einem umstrittenen Korruptionsurteil in Haft, entfernte viele Verweise auf die "Republik China". Ma begann 2008 eifrige Verhandlungen mit dem Festland. 21 Abkommen hat Taipeh seither mit Peking abgeschlossen, erzählt Lin Chu-chia, Vizeminister des Rates für Festlandangelegenheiten. Besonders stolz ist man auf die Vereinbarung zu Direktflügen zwischen Insel und Festland. Hunderte gibt es nun pro Woche. 2,8 Millionen Festland-Chinesen waren 2013 als Touristen da.

Taiwan könnte für sie und rund 20.000 Austauschstudenten Vorbildwirkung haben, so die optimistische Sicht der Regierung: "Nach 21 Uhr eilen viele von ihren Besichtigungstouren in die Hotels zurück, denn dann beginnen die Politik-Talkshows im Fernsehen. Sie sehen das und fragen sich, wieso sie das nicht auch haben können", so Lin zum STANDARD.

Weniger rosig sieht es die Opposition, die Sozialdumping und die Abhängigkeit von Peking über die Hintertüre fürchtet. Als das Parlament im März ein Dienstleistungsabkommen absegnen sollte, brachen die Studentenproteste der Sunflower-Bewegung aus, die der KMT-Sonne ein neues Sonnensymbol entgegensetzten. Eine Parlamentsbesetzung wurde erst nach 24 Tagen friedlich aufgelöst und war - auch angesichts stagnierender Löhne und hoher Wohnungspreise - von Ausschreitungen und von Protesten begleitet.

Versicherungen und Ängste

"Extrem übereifrig und illegal" nannte Präsident Ma die Sunflower-Bewegung im Oktober in seiner Rede zum Nationalfeiertag. Die Arbeit an dem Abkommen liegt weitgehend auf Eis. Die Menschen hätten Angst vor der Liberalisierung bekommen, gesteht auch Shien-quey Kao, Vizeministerin des Nationalen Entwicklungsrates, im Gespräch. "Und manche machen sich auch Sorgen, dass es die nationale Sicherheit gefährden könne." Wegen der Zusammenstöße in Hongkong hat diese Angst zuletzt zugenommen.

Präsident Mas Amtszeit endet 2016; die Zustimmungswerte lagen zuletzt deutlich unter 20 Prozent. "Wer die Wahlen 2016 gewinnt, weiß man nicht" , sagt Lin. "Aber es ist nicht so wichtig. Die Beziehungen, die wir jetzt haben, werden schwer wieder aufzulösen sein." Lin ist erst seit August 2014 im Amt. Damals trat sein Vorgänger Chang Hsien-yao zurück. Gegen diesen wird ermittelt - wegen des Verdachts, er habe Staatsgeheimnisse an China verkauft. (Manuel Escher aus Taipeh, DER STANDARD, 27.10.2014)

Die Reise erfolgte auf Einladung des taiwanesischen Außenministeriums.