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Die Präsidentin und der Dandy: Dilma Rousseff musste erkennen, in Aécio Neves einen überraschend starken Gegner zu haben.

Foto: REUTERS/Paulo Whitaker

Schweißnass, aber kämpferisch steht Ex-Präsident Luiz Inácio Lula da Silva auf der Bühne im Auditorium der Katholischen Universität in São Paulo. Immer wieder schnellt seine Faust hoch, seine Stimme überschlägt sich. "Ich habe noch nie so viel Hass gegen uns erlebt wie in diesem Wahlkampf, nicht einmal in Zeiten der Militärdiktatur!" Im Publikum sitzen Künstler, Intellektuelle und Wissenschafter. Sie sollen überzeugt werden, für die Wiederwahl von Dilma Rousseff zu werben.

Die amtierende Präsidentin und ihr Herausforderer von der konservativ-liberalen PSDB, Aécio Neves (54), liefern sich einen erbitterten Kampf um die Präsidentschaft. Am Sonntag sind rund 143 Millionen Brasilianer zur Stichwahl aufgerufen. Der Ausgang ist offen. In allen Umfragen liegen beide Kontrahenten fast gleichauf.

Es läuft vieles nicht gut für die 66-jährige Rousseff. Die im ersten Wahlgang drittplatzierte Marina Silva sagte offiziell PSDB ihre Unterstützung zu. Allerdings folgen nicht alle Wähler ihrem Aufruf: Umfragen zufolge wollen nur rund 20 Prozent der Anhänger der ehemaligen Umweltministerin für Neves stimmen.

Skandal um Petrobras dominiert

Doch mehrere kleinere ehemalige Koalitionsparteien haben Rousseff ihre Unterstützung versagt. Nach zwölf Jahren Regierung der linken Arbeiterpartei PT eint sie der Wunsch nach einem Wechsel. Befeuert wird die Debatte durch Korruptionsskandale des staatlichen Ölkonzerns Petrobras.

Auch deshalb gilt der noch immer populäre Ex-Präsident Lula da Silva als Rousseffs schärfste Waffe. Die PT ist nervös und setzt auf eine Demontage des Oppositionskandidaten. "Dieser Bursche hat keine Erziehung in die Wiege gelegt bekommen und keinen Respekt vor Frauen", schimpft Lula. Neves wird vorgeworfen, vor einigen Jahren seine damalige Freundin öffentlich geohrfeigt zu haben. Er selbst hat dies stets bestritten. "Noch nie war die politische Intoleranz so hoch", sagt auch der Politologe Pedro Fassoni Arruda. "Es gibt kaum Dialog, sondern nur viele persönliche Angriffe."

Vorwürfe von beiden Seiten

Neves seinerseits bezichtigt die PT, eine Lügenkampagne zu fahren. Rousseff wirft ihm immer wieder soziale Kälte vor und dass er das Sozialhilfeprogramm Bolsa Família, von dem immerhin rund 30 Millionen Brasilianer profitieren, abschaffen wolle.

Der ehemalige Gouverneur des wirtschaftlich wichtigen Bundesstaates Minas Gerais galt eigentlich als abgeschrieben, legte aber in den vergangenen Wochen eine erstaunliche Aufholjagd hin. Der Ökonom präsentiert sich als effizienter Verwalter der Staatsfinanzen und will mit einer Reform der Sicherheitskräfte die Gewalt bekämpfen. Ihm zugutekommt die positive Bilanz der Regierungszeit in Minas Gerais. Auch die Wirtschaft setzt auf Neves. Beharrlich haben Berater versucht, Neves ein seriöses Image zu verpassen. Der Spross einer Politikerfamilie galt lange als feste Größe der Schickeria mit einem Hang zu Alkohol.

Die Polarisierung des Wahlkampfes macht deutlich, wie tief gespalten die brasilianische Gesellschaft ist: geografisch, ökonomisch, sozial. Die Anhänger von Rousseff leben in den ärmeren Bundesstaaten. Sie haben am meisten von den Sozialprogrammen profitiert. In Rio de Janeiro konnte Rousseff im ersten Wahlgang einen Sieg einfahren. São Paulo aber bleibt eine Bastion der Opposition. Auch der entwickelte Süden mit seinen mehrheitlich europäischstämmigen Einwohnern stimmt konservativ. Ebenso votierten Wähler mit Uni-Abschluss zu 60 Prozent für Neves. (Susann Kreutzmann aus São Paulo, DER STANDARD, 24.10.2014)